Dr. Erna R. Fanger und Hartmut Fanger MA

Seit über 25 Jahren erfolgreiche Dozenten für Kreatives und Literarisches Schreiben, Fernschule, Seminare, Lektorat

Sachbuchtipp des Monats April 2024

© erf

ADHS-Gehirne ticken anders

Umarme deine Einzigartigkeit. Es ist in

Ordnung, Dinge anders anzupacken

als die meisten Menschen.

 

Alice Gendron: DER MINI ADHS GUIDE. TIPPS UND TRICKS, DIE DEIN LEBEN LEICHTER MACHEN. Aus dem Englischen von Sabine Tatz. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2024

Das große Plus dieses Mini ADHS Guides ist sein Fokus weniger auf dem Diagnosebefund ADHS im Zuge pathologischer Festschreibung, als hier vielmehr die Einzigartigkeit der Betroffenen ins Zentrum der Betrachtung rückt. So sind nicht selten besonders kreative Menschen damit behaftet. Doch wie auch immer, werden hier die Stärken der von ADHS Betroffenen herausgestrichen, was alleine schon dazu beiträgt, dass die damit verbundenen Engpässe relativiert, sprich, so wenig wie möglich, so viel wie nötig, als Herausforderung der Betrachtung unterzogen werden.

Entsprechend knapp und übersichtlich ist der Guide aufgebaut, illustriert durch witzige Zeichnungen mit liebevoll leichtem Strich, die das Ganze auflockern. Bei aller Kürze ist das Ganze fundiert, informativ, dabei gut strukturiert. So wird der Leser in Teil 1 mit den Basics vertraut gemacht, was ADHS bedeutet, welche drei unterschiedlichen Typen es gibt und wie verbreitet die Symptomatik ist. Aber auch, wie man die Diagnose erstellt, erfahren wir hier. Den Schluss von Teil 1 bildet das ‚Kleine ADHS-Glossar‘. In Teil 2 wiederum werden wir anhand eines Fallbeispiels damit vertraut gemacht, wie sich der Alltag einer von ADHS betroffenen Frau gestaltet, mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert ist. So etwa dem Phänomen des Hyperfokus, der übertriebenen Konzentration auf ein bestimmtes Thema, einhergehend mit Verlust des Zeitgefühls, was zur Folge hat, dass alltägliche Pflichten darüber entsprechend vernachlässigt werden. In Teil 3 „ADHS-TRICKS“ geht es um Strategien zur Alltagsbewältigung. Um Möglichkeiten etwa der Selbstüberlistung, um eine Integration in gesellschaftliche Abläufe, wie im Berufsalltag postuliert, zu gewährleisten. Mit ermutigenden, anschaulich präsentierten und leicht umzusetzenden Tipps bekommt der Betroffene eine Art Methoden-Koffer an die Hand, Hilfe zur Selbsthilfe. Sei es Musik zur Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, Checklisten, Farbmarkierungen, um nur einige zu nennen. Wobei einerseits Autonomie gewahrt, andererseits Selbstwirksamkeit erfahren wird, was wiederum zur Stärkung der Ihm eigenen Ressourcen beiträgt – Kern dieses durchweg empfehlenswerten Guides nicht nur für Betroffene, sondern auf für deren Angehörige und Freunde.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg

Sachbuchtipp des Monats März 2024

© Hartmut Fanger & erf

Der Maler und seine Bilder im Spiegel der Zeitläufte

Caspar David Friedrich

 

Florian Illies: Zauber der StilleCaspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024

 

Rechtzeitig zum 250. Geburtstag Caspar David Friedrichs *1774 setzt Florian Illies dem zu Lebzeiten eher an den Rand gedrängten Maler mit Zauber der Stille ein bemerkenswertes literarisches Denkmal und ruft uns den beachtlichen Einfluss Friedrichs auf Zeitgenossen wie Nachgeborene noch einmal ins Gedächtnis. So hat etwa dessen berühmtes Gemälde „Mann und Frau in Betrachtung des Mondes“ (um 1824) Beckett zu dem in seiner Rätselhaftigkeit bis heute bahnbrechenden „Warten auf Godot“, (UA 1953, Paris) inspiriert – um nur ein Beispiel zu nennen.

 

Illies erweist sich hier einmal mehr als ‚großer Geschichtenerzähler’, wie ihn die Süddeutsche Zeitung schon bezeichnet hat, und erlaubt aus der Rückschau, Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen, die wiederum Zukunft generieren. Insofern erweist sich die Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft genau besehen als stetig ineinanderfließendes, pulsierendes Ganzes, das in dieser Komplexität wiederum unsere Wahrnehmung begründet. Auch Friedrich war den Brüchen seiner Zeit ausgesetzt, wo im Zuge romantischer Weltsicht die Leerstellen der Aufklärung und die Leiden daran zunehmend in den Blick geraten. Brüche, die wir heute wieder, obschon ungleich drastischer und dringlicher, erleben. Und doch hat es etwas Versöhnliches, sich ins Gedächtnis zu rufen, schon immer sind wir aufgefordert, den vom Zeitgeist dominierten Entwicklungen standzuhalten und mit ihnen zu gehen.

 

Und ebenso wenig wie Entwicklungsprozesse chronologisch verlaufen, folgt Illies in seiner Darstellung linearen Prinzipien, als er vielmehr Episoden und Ereignisse aus Vergangenheit und Gegenwart, orientiert an den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft, miteinander verwebt. Mit dem Effekt, dass die Geschichte Friedrichs und die seiner Bilder sich hier auch nach dessen Ableben fortsetzt, womit die Trennlinie, die mit der Zeiteinteilung einhergeht, aber auch die zwischen Leben und Tod, aufgehoben scheint. Ein noch anderes Licht auf das Phänomen Zeit als strukturgebendes Element ergibt sich aus der Tatsache, dass wiederum Friedrichs Name und dessen Werk Ende des 19. Jahrhunderts fast in Vergessenheit geraten ist, später dann vom Nationalsozialismus adaptiert und zu ideologischen Zwecken missbraucht wurde, heute jedoch nicht nur in Fachkreisen große Anerkennung genießt, so etwa, wenn vom „Siegeszug des »Wanderers über dem Nebelmeer«“ die Rede ist – laut Illies gegenwärtig wohl das berühmteste Friedrich-Bild überhaupt.

 

Erhellend nicht zuletzt die Geschichten, die sich um sein Werk ranken, sei es um ihre Entstehung, sei es um ihre Vermarktung. Unfassbar, zugleich tragisch, dass so viele seiner Bilder dem Feuer zum Opfer fielen. Wie Friedrich überhaupt eine magisch anmutende, für den Außenstehenden verstörende Affinität zu besagtem Element an den Tag legte, wie von Illies eindrucksvoll zur Sprache gebracht. Schon aufgrund seines Erzählstils versteht er, den Eindruck zu erwecken, unmittelbar am Geschehen beteiligt zu sein. So etwa, wenn er das Feuer im Münchener Glaspalast von 1931 schildert, wo es ‚besonders schmerzlich’ gewesen sei, dass die »Abendstunde« in Flammen aufging, jenes „Bild von seiner Frau Linda und ihrer Tochter Emma, die sich umarmen und dabei versonnen aus dem Fenster in eine laue sächsische Frühsommernacht hinausschauen.“ Leseprobe

 

Bereichernd auch die plastischen Schilderungen von kleinen Episoden aus Friedrichs Alltag, womit Illies ihn dem Leser umso mehr nahezubringen versteht. So zum Beispiel, wenn er von der Freundschaft zwischen dem norwegischen Maler Johan Christian Clausen Dahl und Friedrich erzählt und Friedrich Dahl eines Abends fragt, ob sie ein wenig in der Dämmerung spazieren gehen wollten, und sie anschließend lange an der Elbe entlang gehen, „... die ihnen lautlos entgegenströmt. Am Ufer machen die Fischer und Schiffer ihre Boote fest und entzünden kleine Feuer, um sich zu wärmen und Fisch zu braten.“ Leseprobe

Wie Friedrich überhaupt gerade das Zwielicht der Dämmerung, sei es am Morgen, sei es am Abend, zu schätzen weiß, dies immer wieder als Motiv in seinen Bildern auftaucht..

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem S. Fischer Verlag in Frankfurt

Sachbuchtipp des Monats Februar 2024

© Hartmut Fanger

 

 Man kann nicht leben, wenn

man nicht heiter ist Jean-Jacques Sempé          

 

Axel Hacke:. Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte, DuMont Buchverlag, Köln 2023

 

Ein ‚in schwierigen Zeiten’ in der Tat zu empfehlendes  Buch! Bereits aus dem Titel geht hervor, dass sich Heiterkeit nicht vom Ernst des Daseins trennen lässt. Umso mehr stellt sich für Axel Hacke angesichts der aktuellen Gegebenheiten, wie Klimawandel, Kriegswahnsinn, Bedrohung einer zerbrechlichen Demokratie die berechtigte Frage, inwieweit es noch legitim ist, sich mit solchen Sehnsüchten zu beschäftigen. Dazu ein nicht uninteressanter Vergleich mit dem Jahr 1985, wo die Bedrohung angesichts ‚sterbender Wälder, steigender Arbeitslosigkeit und ganzer Legionen von Atomraketen’ ähnlich aussichtslos ausgesehen haben mag. Und war die Menschheit nicht schon immer bedroht?  Hat es überhaupt je Zeiten gegeben, in denen „Heiterkeit am Platze war“? Schnell stellt sich für den Autor der Verdacht ein, dass „hinter der Furcht vor Dürren und Hochwasser, [den] Eisschmelzen und Starkregen als Vorboten des allgemeinen Untergangs ... unsere jeweils ganz private Todesangst lauert“. Leseprobe

Nicht zu leugnen, die letzten Jahrzehnte waren anstrengend und riefen eher den Ernst des Lebens als unsere Heiterkeit auf den Plan:

„Der Zeitbefehl heute lautet: Sei authentisch! Dulde nichts, was nicht ganz du selbst bist! »Die Folgen«, so Pfaller [österreichischer Philosoph], »sind Unfähigkeit zum Genuss, Erschöpfung, Depression, Ängstlichkeit, Hass auf das Glück des anderen...«“ Leseprobe

Heiterkeit wiederum setzt dem etwas entgegen, vermag nach Axel Hacke nicht zuletzt Trost zu spenden, wenn der Ernst Oberhand zu gewinnen droht. Gerade dann erweist sich Heiterkeit oft als bewährtes Gegenmittel, dem Ernst ein Schnippchen zu schlagen, ihm zu entkommen.

Doch was genau macht eine solche Heiterkeit aus. Grundsätzlich scheint ihr eine Sehnsucht nach dem Guten im Leben, dem guten Leben schlechthin, innezuwohnen. Aspekte, die hier mitschwingen, sind etwa das „Lachen, der Witz, Komik, Alkohol, Humor, Lächeln, Freundlichkeit“ – allesamt Faktoren, denen der Autor auf 224 Seiten nachgeht. Dabei kommen schillernde Namen der Weltliteratur, Philosophie und Musik zum Tragen. Von Seneca bis Wilhelm Schmid, von Goethe bis Christoph Ransmayer oder etwa der unvergessliche, einst von den Nazis verfolgte Kabarettist Werner Finck. Und wer erinnert sich nicht an den mit Sean Connery verfilmten Roman Der Name der Rose von Umberto Eco, in dem Mönch Jorge den bedeutsamen Satz „Lachen tötet die Furcht“ äußert. Oder an den Club der Toten Dichter mit dem brillanten Schauspieler und Komiker Robin Williams, dessen Person Tragik und Komik unmittelbar in sich vereinte und von dem bekannt ist, dass er unter Depressionen litt, sich am Ende das Leben nahm. Ebenso wie Woody Allens Der Stadtneurotiker an dieser Stelle nicht fehlen darf.

Aber auch Klassiker der Fernsehwelt wie das von Beginn der 60er bis Ende der 80er Jahre beliebte heitere Beruferaten „Was bin ich“ von und mit Robert Lemke kommen von Axel Hacke in nahezu liebevoller Erinnerung gleich zu Beginn ins Spiel. Und natürlich dürfen Großmeister des Humors wie Loriot nicht unerwähnt bleiben, von dem Hacke schreibt, dass  „Niemand ... wie er die Deutschen bis zur Kenntlichkeit karikiert [hat]. Aber weil er das so charmant und heiter tat, haben sie sich wiedererkannt.“ Leseprobe

Oder Sigmund Freud und dessen Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, worin deutlich wird, dass das „Wortspiel, die Kürze, die Prägnanz, die Sinnverschiebung, die Verdichtung, die Abweichung vom üblichen Denken, übrigens auch das Hinkonstruieren auf eine Pointe“ Leseprobe das Charakteristische des Witzes ausmache.

Nahezu jede Zeile mag hier unsere Sehnsucht inspirieren, ‚ein von Grund auf heiteres Wesen zu sein’ – sei sie noch so unerfüllbar. Nichtsdestotrotz kann es wenigsten in Ansätzen funktionieren. Wenigstens ‚ein bisschen’, wie Axel Hacke am Schluss festhält. Heiterkeit in seinem Leben gewährt ihm schließlich das Schreiben, das Bewegung hineinbringt, eine gewisse Leichtigkeit und ‚Licht am Ende eines schummrigen Tunnels’ in Aussicht stellt. Nicht zuletzt verschafft die Heiterkeit Distanz zum eigenen Leben, eröffnet die Möglichkeit, es als Spiel zu begreifen.

Nach dieser so leicht daherkommenden wie kenntnisreichen und heiteren Lektüre möchte der Leser jedenfalls mehr davon in seinem eigenen Leben realisieren.

Doch lesen Sie selbst, lesen sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Dumont Buchverlag in Köln

Sachbuchtipp des Monats Januar 2024

© Hartmut Fanger

Embodyment aus ganzheitlicher Sicht

Karsten Richter & Nataly Bleuel:  Blockaden Lösen. Wie wir wieder in den Flow des Lebens kommen, Rowohlt Verlag, Hamburg 2024

Wer kennt es nicht. Das Passwort für ein Handy, ein Computerprogramm fällt uns nicht mehr ein, in einer Prüfung bleibt die uns eigentlich geläufige Antwort auf eine uns gestellte Frage einfach aus oder es ereilt uns gar ein Hexenschuss, der unsere Bewegungsfähigkeit einschränkt. In der Regel handelt es sich dabei um Blockaden, die wir mit Hilfe relativ einfacher Methoden lösen können.

Der  renommierte Osteopath, Physiotherapeut und Heilpraktiker Karsten Richter und die mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftsjournalistin Nataly Bleuel gehen in diesem lesenswerten, 268 Seiten umfassenden Buch dem Phänomen nach, suchen nach Ursachen und vor allem Lösungen, zeigen zudem auf, wie wir wieder in Fluss kommen. Zahlreiche praktisch anwendbare Übungen helfen uns dabei. 

Vor allem geht es um das „Zusammenspiel von Soma und Psyche“, um „Anatomie und  Physiologie“ – schließlich den Menschen in seiner Ganzheit. So gesehen, erweisen sich westliches und östlichen Menschenbild als diametral entgegengesetzt. Und während bei Ersterem in der Medizin traditionell die Trennung von Körper und Geist vorherrscht, finden wir bei Letzterem die einheitliche Sichtweise, in der es eben keine Trennung „zwischen Kopf und Körper, Geist und Materie, Seele oder Leib, body and mind“ Leseprobe gibt – treffend im Tao-Zeichen versinnbildlicht.

Eben diese östliche Sicht aufgreifend, entwickeln die Autoren das sogenannte „Embodyment“, was nichts weiter bedeutet als das ‚Denken vom Körper her’: „Wir benutzen unseren Kopf nicht nur, um den Körper zu kontrollieren, sondern wir sind dieser Körper, um mit der Welt zu kommunizieren.“ Leseprobe

Ziel des Buches ist es wiederum, die Verbindung zwischen Körper und Geist zu stärken. Dementsprechend mahnen die Autoren vor allem an, das Fühlen wieder in den Blick zu nehmen:  „... wenn wir wieder mehr ins Fühlen kommen und anfangen, mit dem Körper zu denken –,  werden sich viele Blockaden gar nicht erst einstellen.“ Leseprobe

Hilfreich dabei sind die oben bereits angedeuteten zahlreichen Übungen – von Atem-, Bewegungs-, Schreib-, Sing- bis Sitzübungen („Zazen“) ... Allein schon die Überschriften stimmen neugierig und inspirieren: ‚Den inneren Schweinehund streicheln“,  „Stell dich tot“ oder „Loses Maul“. Weitgehend bequem zu Hause aus anzuwenden, lassen sie sich mühelos in den Alltag integrieren und ersparen so manchen Gang zum Physiotherapeuten. Das Ganze wunderbar leicht geschrieben, verständlich und informativ!

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in Hamburg

Sachbuchtipp des Monats Januar 2024

 

© erf

Vom Streben nach Glückseligkeit

Warum die Beatles einst in Indien einen Guru aufsuchten

 

Das Einzige, was nötig ist: einverstanden zu sein mit dem, was ist, ganz und gar einverstanden zu sein. Das ist der Boden der Liebe und der Hingabe. Die Liebe überschreitet das Persönliche,und deine Hingabe öffnet dich für das Größere ... Christian Meyer

 

Christian Meyer: Erleuchtung kann jeder. Eine klare Anleitung für deine Transformation. Verlag Gräfe & Unzer/Unum, München 2023

Mit diesem Werk, in dem sich Tradition mit Moderne, westliche mit östlicher Spiritualität, psychologische mit spiritueller Weisheit verbindet, hat der Diplompsychologe und spirituelle Lehrer Christian Meyer, Jahrgang 1952, ein so einzigartiges wie grundlegendes Kompendium vorgelegt. Es befähigt, in die Eigenverantwortung zu kommen und das einem jeden eigene Schöpferpotenzial zum Leuchten zu bringen. Dies weist ihn wiederum als Vertreter der Humanistischen Psychologie aus, deren zentrales Anliegen die individuelle Entwicklung des Menschen hin zu Selbstverwirklichung und Autonomie ist.

Zugrunde liegt dem eine über 40 Jahre währende, tiefgreifende Erforschung der Frage in Theorie und Praxis, was in der Psychologie und in den verschiedenen spirituellen Ansätzen Menschen hilft, zu wachsen und in einen Zustand der Glückseligkeit zu gelangen – unabhängig von äußeren Bedingungen, die permanenter Veränderung unterliegen. Die im wahrsten Sinne des Wortes zündende Erfahrung machte er 1999 in einem Retreat mit Eli Jaxon-Bear, Psychologe und Enneagramm-Lehrer, der Spiritualität mit psychologischem Fachwissen verbindet. Dieser gelangte zu der entscheidenden Erkenntnis, dass die z.B. von Osho, aber auch in anderen Meditations-Lehren verbreitete Ansicht, durch die Distanz im Zuge von Selbstbeobachtung sich von seinen Leiden zu befreien, ein Irrweg sei. Dass man sich dadurch nur noch mehr von seinem eigenen inneren Erleben, seiner Lebendigkeit entfremde und abspalte. Sein Ansatz ist, alles, was sich an Empfindungen und Gefühlen zeige, zuzulassen, zu fühlen, ohne es zu analysieren, sprich, ohne den damit möglicherweise verbundenen Traumata aus der Vergangenheit Beachtung zu schenken. Vielmehr gehe es darum, sich im gegenwärtigen Moment voll und ganz auf das Fühlen ein-, sich dort hinabsinken, alles was an Regungen sich zeige, gewähren zu lassen. Ein nicht selten schmerzhafter Prozess, verbunden mit Todesangst. Lässt man dies zu und ist der Widerstand gegen die Wucht der Gefühle erst einmal gebrochen, kann man eines Zustandes des Gelöstseins, der vollständigen inneren Ruhe gewahr werden, eines Zustands der Glückseligkeit, ja Erleuchtung. Das bedeutet zugleich, die Welt so wahrzunehmen, wie sie ist, frei von der eingeengten Perspektive des Ichs.

Spannend wiederum, dass diese Erkenntnisse sieben Jahrhunderte vorher schon von Johannes Tauler und Meister Eckhart, beides Vertreter christlicher Mystik, verbreitet und angewandt wurden. Ihrer Zeit weit voraus, war dies wohl der Grund, dass die hohe Wirksamkeit ihrer Mission, sich in das Innere zu vertiefen und sich auf diese Weise selbst zu erforschen und Erleuchtung zu erfahren, zunächst in Vergessenheit geraten konnte und erst im frühen 19. Jahrhundert erneut aufgegriffen wurde. Aber „In der Spiritualität ist alles Wichtige ewige universelle Weisheit. Leseprobe

Kenntnisreich die Erhellung des historischen Hintergrunds, beginnend mit den Veden vor ca. 4000 Jahren, den ältesten Aufzeichnungen Indiens, die von der Befreiung des Menschen im Zuge des Erwachens schreiben. In den folgenden 3000 Jahren entwickelte sich Yoga als Weg der Erleuchtung, aber auch die je nach Kultur unterschiedliche Gewichtung. So ging es in Indien und China zunächst vornehmlich um Befreiung per se, danach um Befreiung vom Leid. Im abendländischen Kontext wiederum stand die Suche nach Wahrheit im Zentrum, während im Christentum der Aspekt der Liebe Vorrang hatte.

Bemerkenswert, dass im Gegensatz zu der Entwicklung seit den 90er Jahren Erleuchtung in den 70ern und 80ern als Thema durchaus en vogue und in vielen Bereichen präsent war, während man von Spiritualität eher weniger sprach. So verweist Meyer etwa auf die Beatles, die in Indien ihren Guru aufsuchten, Einschnitt, der sich auch musikalisch niederschlug und woraus ihr psychedelischer Stil resultiert. In Scharen folgten junge Leute Osho, praktizierten Yoga und erprobten neue Formen des Zusammenlebens, um Erleuchtung zu erlangen. Ja wir hatten 1979 in Deutschland, vorgeschlagen von Willi Brandt, mit dem Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker beinahe einen erleuchteten Bundespräsidenten, der dieses Amt jedoch ablehnte. Seine Erleuchtungserfahrung hat er in Büchern beschrieben und in Radiosendungen publik gemacht.

All dies ist in den 90er und 10er-Jahren des dritten Jahrtausends in den Hintergrund getreten. Jetzt, im Zuge der umfassenden Transformation, in der die Menschheit begriffen ist, scheint es eine neue Aktualität zu gewinnen. Die zahlreichen praxiserprobten Übungen und Tipps mögen dazu beitragen, der Sehnsucht nach Freiheit, Wahrheit und Liebe wieder Raum zu geben, sie zunehmend ins Bewusstsein zu rücken – ‚Erleuchtung kann jeder‘!

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Gräfe & Unzer Verlag/Unum

Sachbuchtipp Dezember 2023

© Hartmut Fanger

Bilanz eines Verlusts – Venezianische Trauerarbeit

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste  Hanser Verlag,  München 2023

In was für einer Zeit leben wir. All das, was uns bisher Sicherheit gab, scheint verloren oder zumindest infrage gestellt. Der spätestens seit seiner Susan Sontag-Biographie „Geist und Glamour“ bekannte Erfolgsautor und Journalist, Daniel Schreiber, zeigt in seinem lesenswerten Essay „Die Zeit der Verluste“ die Zusammenhänge auf, die uns das Leben spätestens seit nine eleven erschwert haben. Von der Finanzkrise 2008 bis hin zum Krieg in der Ukraine, von der Klimawende bis hin zur Pandemie. Darüber hinaus machen seine Ausführungen deutlich, wie fragil all unsere demokratischen Errungenschaften sind, die von immer mehr populistischen Strömungen unterlaufen und bedroht, von zahlreichen Diktatoren bereits an sich gerissen werden. Verlust von Freiheit und Meinungsvielfalt die Folge.

 

Anlass, sich der Auseinandersetzung mit dem Thema zu stellen, bildet der sehr persönliche Verlust des Todes des Vaters. Wobei der Aufenthalt in Venedig den treffenden Rahmen abgibt. Eine Stadt, die dem Untergang geweiht zu sein scheint, zugleich wie ein Seismograph auf Veränderungen in der Umwelt reagiert. Vergänglichkeit und Tod und ästhetisch ansprechende Architektur in unmittelbarem Nebeneinander. Und so kommt es auch nicht von ungefähr, dass eine Freundin des Autors Venedig manchmal, ‚wie ein alter, sterbender Körper vorkommt, den man schmückt und balsamiert wie für eine festliche Beisetzung‘.

 

Für eine teils poetisch anmutende Trauerarbeit scheint Venedig – nicht zuletzt Thomas Manns Tod in Venedig konnotierend – dementsprechend geradezu prädestiniert. Zumal, wenn auch noch eine Naturerscheinung wie Nebel die Konturen in einem anderen Licht erscheinen lässt:

 

"Der Anblick passt fast schon zu gut zu meiner Verfassung. Die dumpfe Welt der Trauer, in der so wenig nachhallt, in der man so wenig Resonanz erfährt, in der Dinge nur schemenhaft Gestalt annehmen: hier ist sie, in ihrer allerschönsten Form, als hätte man sie gemalt. Der Nebel verwandelt die Stadt in ein großes, phantomartiges Ölgemälde, ein glorioses, viel zu schönes und elegantes Bild der Trauer. Er legt sich wie ein Schleier über alle Dinge und kündigt, indem er sie der Sichtbarkeit entzieht, sanft ihr Verschwinden an."  Leseprobe

 

Und so begleitet die Leserschaft Daniel Schreibers Trauerarbeit quer durch Venedig, nimmt Teil an seinem Versuch, sich der Sinnlichkeit des Lebens wieder zuzuwenden, indem er etwa wiederholt zur Zigarette greift, sich dem Nebel aussetzt, sich ins Museum flüchtet. Ebenso erfahren wir von ihm, was anderen Büchern über Trauerarbeit zu entnehmen ist. Beispielsweise, wenn der Ethnologe Arnold von Gennep klarstellt, dass es sich bei der Trauerarbeit zugleich um Übergangsrituale handelt. Sei es für die zurückbleibenden Lebenden, sei für die Verstorbenen, die sich gleichfalls von der Sphäre der Lebenden in die der Toten begeben haben. Nach dem Motto Michelangelos „Wir wechseln nur die Räume.“

 

Als sinnliche Wiederaneignung des Lebendigen kann dann auch der Weg ins Restaurant verstanden werden, wo er zum Beispiel „Crudités aus Möhren, Fenchel, Kohlrabi und grünem Spargel, die mit Salbeiöl besprüht werden“, zu sich nimmt und so den Anschein erweckt, dass dem Autor das Leben wieder ein Stück näher gekommen sein mag.

 

Dabei kommt trotz des persönlichen Verlustes stets der Blick auf das Ganze zum Tragen. So zitiert Schreiber an einer Stelle Julia Samuel, dass „Die Schäden, die uns Trauer zufügt, ... nicht vom Schmerz der Trauer selbst verursacht [werden], sondern von all den Dingen, die wir tun, um sie zu vermeiden, um sie nicht anzuerkennen, um sie zu vergessen.“ Der Autor erhält schließlich den ...

 

"Eindruck, Zeuge einer enormen posttraumatischen Belastung zu werden — meiner eigenen und der jener Personen, mit denen ich spreche. Einer posttraumatischen Belastung, die sich durch die Pandemie, ihre Todesfälle und die von ihr verursachten Ängste, durch die von Tag zu Tag beunruhigender werdenden Folgen des Klimawandels, durch den Krieg und durch die fortschreitende Spaltung unserer Gesellschaft immer weiter verfestigt, immer noch größere Ängste, noch größeren Schmerz produziert." Leseprobe

 

Alles in allem ein Essay, der Mut macht, sich den Gefühlen, wie etwa Trauer und Schmerz, zu stellen, für die in Zeiten von Selbstoptimierung und rasanter gesellschaftspolitischer Entwicklungen immer weniger Raum vorhanden zu sein scheint.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Zu empfehlen auch die Bücher von Daniel Schreiber „Nüchtern“ (2014) „Zuhause“ (2017) und „Allein“ (2021)

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag, München 2023

Sachbuchtipp November - Dezember 2023

 © erf

Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.

Astrid Lindgren

 

Von der vielfältigen Kunst, sich eine Pause zu gönnen

Andrea Gerk, Moni Port: Pause! DAS KLEINE GLÜCK DAZWISCHEN. Verlag Kein & Aber, Zürich-Berlin 2023

Sage und schreibe 46 Arten, der Pause zwischendurch zu huldigen, hat Andrea Gerk hier aufgegriffen, ein richtiges Kompendium, klein und kompakt. Umso erstaunlicher die verlockende Fülle darin, zum Nichtstun einladend, was in unserer leistungsbetonten Gesellschaft zugleich etwas Subversives hat. Das Ganze überdies von Moni Port hinreißend witzig illustriert, wie schon das Cover verspricht. Dabei wartet das Kleinod, neben der unterhaltsamen Beschreibung der unterschiedlichen Arten von Pausen, mit jeder Menge Hintergrundwissen auf. Sei es mit der Etymologie des Begriffs ‚Pause‘, sei es mit dessen Definition im ehrwürdigen Grimm’schen Wörterbuch, wie auch Literaturangaben am Schluss nicht fehlen.

 

Gleich aus dem Vorwort wiederum erfahren wir, was eine der schönsten Pausen ist – nämlich die auf dem Berg nach einem anstrengenden Aufstieg und bei bester Aussicht, wo einem die Welt buchstäblich zu Füßen liegen mag. Ebenso aber auch, dass Pausen eine physische Notwendigkeit sind. Angesichts dieser Tatsache wird der Pause deutlich zu wenig Aufmerksamkeit gezollt. Dieses Manko ist mit Gerk/Ports kleinem feinem Pausenbuch behoben. Angefangen von der geläufigen Mittagspause bis, last but not least, der Pause von sich selbst navigiert der Leser mit Vergnügen durch ‚das kleine Glück dazwischen‘. Sei es die Sommer-, Denk- oder Pinkelpause oder gar die diversen Pausen der anderen – so etwa die Teatime der Briten oder Teetied in Ostrfriesland, sei es die Kreative, Musikalische oder Ungeplante Pause. Animierend die Lieblingspause, wie etwa ‚tagsüber ins Kino zu gehen‘. Aber auch Pausenräume werden erkundet, Löcher und Lücken, Kunst-, Meno- oder Feuerpause. Kurz: Hier gibt es Pausen für alle Lebenslagen, und das in Buchform – ideal zum Verschenken nicht nur zur Weihnachtszeit.

 

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Kein & Aber, Zürich-Berlin 2023

Sachbuchtipp September - Oktober 2023

© erf

Schönheit – Auf der Spur eines Faszinosums

Gabriele von Arnim: Der Trost der Schönheit. Eine Suche, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023

So tiefgründige wie eloquente Recherche in essayistischer Erzählprosa, zugleich erlesener Kompass durch die Höhen und Tiefen menschlicher Existenz.

An das bedeutsame Gedicht „An die Nachgeborenen“ mit seinem Beginn von immer neuer Aktualität gemahnend, „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“, in dem Brecht bestürzt bekennt „Was sind das für Zeiten, wo/Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/ Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“, sieht sich angesichts permanenter Krisen auch Gabriele von Arnim gleich zu Beginn dieser Spurensuche genötigt zu rechtfertigen, in dieser Gemengelage der Schönheit zu frönen. Dementsprechend sieht sie darin eine Art

„Verteidigung der eigenen kleinen Wirklichkeit gegen die WeltWirklichkeit. Gegen die nächtlichen Angriffe auf meine Gefasstheit. Wenn Bilderfetzen, Gedankenfragmente, Phantasien, Wirbel, Entsetzen und Hast als Flimmergestöber im Kopf durcheinanderstürzen. Gelesenes, Gehörtes, Erlebtes, Ängste, Hoffnungen, Nachrichten.“ Leseprobe.

 Den Blick gerade in Zeiten wie diesen auf Momente von Schönheit zu richten, die uns in jedem Augenblick unseres Lebens umgeben mag, sind wir nur offen dafür, scheint zugleich eine Notwendigkeit, um seelisch und geistig zu überleben, als auch Geschenk, das wir uns tagtäglich selbst machen können. Und die in Hamburg promovierte Autorin weiß, wovon sie spricht, wie sie auch in ihrem berührenden Bestseller Das Leben ist ein vorübergehender Zustand (2021) über die eine Dekade währende Begleitung Ihres schwer kranken Mannes immer wieder auf Augenblicke der Schönheit rekurriert hat. (siehe hierzu unseren Buchtipp vom Juni 2021 im Archiv). Insofern ist Schönheit nicht zuletzt Zuflucht: „[E]in Blick, ein Stein, eine Rose, ein Wolkengarten. Die zärtliche Abendsonne im Nacken ... Die Zuflucht, die man sich schafft. Die kleine Heimat, die man braucht.“ Leseprobe.

Stilistisch versiert, gespickt mit dem ihr eigenen philosophisch-literarisch-kulturellen Hintergrund, erhellt sie ihren Zugang zu dem so fragilen wie ambivalenten Phänomen. Denn wie alles ist Schönheit vergänglich, flüchtig. Da wir sie naturgemäß festhalten wollen, schmerzt es uns umso mehr, wenn sie sich wieder entzieht. Es stich uns ins Herz. Auch hat Schönheit für von Arnim weniger mit Makellosigkeit oder Vollkommenheit zu tun, was eher Erstarrung bedeutet, Stillstand und Tod, vielmehr beinhaltet Schönheit Lebendigkeit, sich innerlich und äußerlich bewegen zu lassen:

Denn, wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten, an Wege, Räume, Purzelbäume. Schönheit kann Gefühle befreien, kann uns den Mut geben, Neues zu wagen, oder die Kraft, Unveränderbares zu ertragen.“ Leseprobe

Und, nicht zu vergessen: «Und was schön ist, bringt Freude», so nach der Autorin bereits von Euripides formuliert. Freude, die das Herz weitet und uns wieder mit der Sinnlichkeit des Lebens in Verbindung bringt, wie von Arnim es uns hier in ihrem glühenden Plädoyer im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz legt.

 Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in Hamburg

Sachbuchtipp September 2023

© erf

Nachrichten aus dem Inneren von Bäumen und Steinen

Was geschieht, wenn man ein Gedicht pflanzt? 

Cees Nooteboom: In den Bäumen blühen Steine. Die erdachte Welt von Giuseppe Penone, Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.

Diesen Juli hat Cees Nooteboom seinen 90. Geburtstag gefeiert. Mit seinem jüngsten Werk „In den Bäumen blühen Steine“ hat er seinen Lesern sowie sich selbst ein Geburtstagsgeschenk par excellence gemacht. Wer den Kosmos dieses poetischen inneren Dialogs des Dichters Cees Nooteboom mit dem 76jährigen italienischen Künstler, Skulpteur, Bildhauer und Landartist  Giuseppe Penone betritt, wird Zeuge einer unsichtbaren Wahrheit in einer Welt beseelter Entitäten, in der Bäume, Flüsse und Steine ihre ganz eigene Wirklichkeit entfalten. Eine Wirklichkeit, gespeist von erweiterter Wahrnehmung, die sich der Stille verdankt und erlaubt, einzutauchen in die tiefe Verbundenheit des Menschen mit der Natur, die uns die Mechanik, Unerbittlichkeit und Rasanz digitaler Prozesse, die gegenwärtig den Takt vorgeben, zu verwehren scheinen.

Anlass der Auseinandersetzung war eine Retrospektive im Museum Voorlinden in Wassenaar bei Den Haag des Werks von Giuseppe Penone (Oktober 2022-Januar 2023). In Vorbereitung derselben erhielt Nooteboom die Nachricht von der Direktorin des Museums, dass Penone sich von dem dichterischen Werk Nootebooms hätte inspirieren lassen. Beide Künstler hatten sich einst flüchtig kennengelernt, sich dann aber aus den Augen verloren. In einem handgeschriebenen Brief auf Italienisch vom 8. Juli 2022 teilt Penone Nooteboom mit, dass er für den Ausstellungs-Katalog einige seiner Gedichte ausgesucht habe.

Dies wiederum war für Nooteboom der Beginn einer tiefgreifenden Recherche nach gemeinsamen Wurzeln der beiden Künstler und Großmeister ihres Fachs. Gelegenheit dazu verschaffte ihm kurz nach Eintreffen besagten Briefs eine umfangreiche Sendung aus Turin voll mit kleinen Essaybändchen über das Werk Penones, die ihn in dessen Sommer-Haus auf Menorca erreichte.

Bewegt von der Tatsache, dass Jahre, nachdem Penone seine Gedichte rezipiert hatte, diese in dessen Skulpturen und Natur-Artefacte eingeflossen waren, begibt sich Nooteboom auf Spurensuche und damit zugleich auf eine Reise ins Innere, inspiriert allein von besagten Essaybändchen mit etlichen Aufnahmen von Kunstwerken Penones. Dessen Werk aus einfachsten Materialen – Bäume, Steine, Metall –, der Arte Povera zugeschrieben, korrespondiert mit der Poesie Nootebooms nicht zuletzt im Hinblick auf ihrer beider Naturverbundenheit.

Letztere ist bei Penone insofern stark ausgeprägt, als sein Großvater Bauer, Penone auch auf dem Land aufgewachsen war. Die Verbundenheit des Bildhauers und Skulpteurs mit der Erde, dem Ursprung der Materie, diese unmittelbare Berührung dessen sinnlicher Kunst, die sich ertasten lässt, löst eine gewisse Eifersucht aus in Nooteboom. Als Künstler, Dichter, der mit Worten jongliert, die, weniger greifbar, mehr der Sphäre des Geistes und damit der des Denkens zugeschrieben sind, vermisst er besagte Unmittelbarkeit der Berührung. Dies wiederum kompensiert er in der Verbundenheit mit der Natur im Garten seines Sommerhauses, wo er den Leser etwa durch seine Kakteensammlung führt, oder ihm die Palmen, die er selbst gepflanzt hat, nahebringt. Aber auch Steine hat er gesammelt. Mitbringsel aus zahlreichen Reisen rund um den Globus. Mit ihnen sucht er das Zwiegespräch, überlegt, ob sie manchmal an ihn dächten, und macht uns glauben, auch Steine seien Wesenheiten, in denen Geschichte und Geschichten schlummern, die sich dem erschließen mögen, der sich ihnen öffnet.

Zu diesen wiederum zählt Penone, dessen gesamte Kunst als Art Zwiegespräch mit der Seele von Bäumen, Steinen und Metall interpretiert werden kann, in das Wind und Fluss als Skulpteure eingebunden sind. Eben dies erweist sich dann auch als verbindendes Element zwischen dem Dichter Nooteboom und dem Bildhauer, Skulpteur, aber vor allem Landartist Penone.

Die Faszination dieses Textes Nootebooms liegt im Zauber seiner geistigen Frische. Dies wiederum mag sich seiner Offenheit und der Weisheit verdanken, sich als 90jähriger weniger aufs Altenteil zu besinnen, als vielmehr als „Entdeckungsreisender“ durch das Werk Penones zu begeben. Mit unverbrüchlicher Neugier und einem tiefen Wissen um die Unsagbarkeit von Wahrheiten, die sich dem Verstandesbewusstsein entziehen. „Liebe allein in den Dingen, aus Wolken und Winden geschnitzt.“*

*Cees Nooteboom in dem Gedicht BASHŌ I

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Suhrkamp Verlag, Berlin 2023

 

 

 

Sachbuchtipp August 2023

© erf

Die Welt Ein Knäuel von Wörtern

Kurt Marti, Wort-Warenladen, Verlag Urs Engeler, CH-Schupfart 2021

 

 Zwischen „Eselskönig“ für Jesus (Hugo Ball), „Seelensprache“ für Musik

Wieland) und Novalis‘ „Seelenverdauung“ für Schlaf ...

 

Kurt Marti (1921-2017) war nicht nur Schweizer Pfarrer und Lyriker und politisch engagierter Zeitgenosse, der nicht selten als einer, der ‚den Himmel auf Erden anzetteln‘ wollte, aneckte. Kurt Marti war auch ein akribischer Sammler. Er sammelte Wörter, Wörter aus Lektüren, nach Bereichen geordnet: „Weltall“, „Sterne“, „Mond“... Innerhalb dieser wiederum ging er alphabetisch vor, der Name des Autors, bei dem er einen solchen Wort-Fund machte, erscheint dahinter in Klammer. Beim Bereich „Jahreszeiten“, in sich wiederum in „Frühling“, „Sommer“ ... gegliedert, lautet das erste Wort sub voce „Frühling“ zum Beispiel Aprilgefunkel (MayröckerF), das letzte Werdelust (Goethe). Wörter, die uns kitzeln mögen, aufwiegeln oder anrühren, bisweilen stechen, Wörter, die zart und leicht, dann wieder eisenschwer daherkommen, uns treffen mit aller Wucht.

 

Bereits an den wenigen bis dahin aufgeführten ‚Kostproben‘ ist ersichtlich geworden, um was für einen Schatz es sich hier handelt Fundgrube par excellence für jeden Autor, jede Autorin. Darin eingeschrieben Kurt Martins Credo, dass die Sprache mitentscheide, in welcher Welt wir uns bewegen. Wieviel Fantasie zum Beispiel darin Raum einnimmt, wieviel Leichtigkeit und Spiel, wieviel Ausdruckskraft für die Last und all das Schwere mit der menschlichen Existenz Verbundene uns im Rahmen von Sprache gewährt ist, wieviel Offenheit, Weite, mit Blick auf innovative Perspektiven, die uns als Menschheit in Richtung Humanität voranschreiten lassen. ‚Zärtlich und genau zu sein“ waren Leitlinien in Kurt Martis Lyrik – im scheinbar Unbedeutenden die Größe erkennen, das Wunder aufspüren in einem Blatt, im Blick, der einen im Vorübergehen streifen mag, im unverhofften Lächeln

 

In jedem Fall eine funkelnde Schatztruhe für alle der Schreibenden Zunft Zugehörige.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.

 

Sachbuchtipp Juli-August 2023

© Hartmut Fanger

 

Die Welt ist groß und voller Leute, die weitermachen, selbst wenn

 

es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint. Holly Matthews

 

Nützliche Tipps in Krisenzeiten

 

Holly Matthews: Hinfallen ist auch ein Weg nach vorne, aus dem Englischen von Barbara Imgrund, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.

 

Die Britin Holly Matthews gibt in ihrem Bestseller "Hinfallen ist auch ein Weg nach vorne" so beherzt wie bodenständig Tipps in 60 Schritten, wie man sich aus existenziellen Notlagen aufrappelt und dabei nicht nur sein Leben in den Griff bekommen, sondern darüber hinaus auch wieder Glück empfinden kann.

 

Ein Blick genügt, um zu erkennen, dass die inzwischen preisgekrönte Autorin, Life-Coachin, NLP-Practitioner und Hypnotherapeutin weiß, wovon sie spricht. Nachdem ihr Mann überraschend früh verstarb, musste sie sich mit zwei kleinen Kindern allein durchschlagen.  Wie sie diese Zeit bewältigt hat, stellt letztendlich für sie selbst wie für ihre Leser eine Motivation dar, sich am Schopf aus der Schlinge zu ziehen. Schließlich erzählt sie in diesem Band ‚von ihrer eigenen Reise, davon, was sie unterwegs erlebt hat.’

 

Mit ihren Leser:innen ist sie dabei stets auf Augenhöhe, spricht sie mit dem vertrauten ‚Du’ an, davon ausgehend, dass auch ihnen in ihrem Leben schon ‚heftige Dinge passiert sind’, sie aller Wahrscheinlichkeit nach ‚schon einiges durchgemacht haben’. Warum sonst, sollten sie ‚gerade jetzt ihr Buch lesen’ ... Und es ist ihr bewusst, dass dies nicht selten mit schmerzhaften Prozessen einhergeht. Umso leidenschaftlicher verfolgt sie ihr Ziel, ‚wieder Wege hin zur Freude, Spaß am Leben‘ aufzuzeigen.  Und da hat sie jede Menge „Tipps, Tricks, Tools und Überlegungen“ parat, um den ‚gewaltigen Herausforderungen und Verlusten, etwa durch Tod und Krankheit’, zu trotzen, etwas entgegensetzen zu können.  Darüber hinaus geht es jedoch auch um die banalen Dinge des Alltags, mit denen wir uns häufig herumplagen. Matthews bietet Lebenshilfe auf allen Ebenen, wozu zum Beispiel „Meditation für Einsteiger“, die Anwendung von „Affirmationen“ oder so genannte „Dankbarkeitsspaziergänge“ gehören.

 

Von neuesten Erkenntnissen ausgehend, wie unser Gehirn arbeitet, zeigt Matthews auf, wie man wieder ‚Leben in die Bude’,  ‚was einen durch harte Zeiten bringt’,  wie man sich ‚mit der Angst anfreundet’ und  ‚durchhalten lernt’, dementsprechend eben ‚nicht aufgibt’. Und es sind gerade die kleinen Alltagsrituale, die uns das Leben verschönern und mehr Leichtigkeit hineinbringen können. Sei es beim Start in den Tag mit einer kleinen Achtsamkeitsübung, sei es vor dem Schlafengehen, wo man sich noch einmal vergegenwärtigt, was tagsüber gut gelaufen ist.  Oder wie man bei aller Liebe ganz einfach auch mal ‚Nein’ sagen kann.

 

Letztlich macht die Autorin Mut, das Leben in all seiner Vielfalt wieder anzupacken, sich ‚große, fette Ziele zu setzen, die ‚Siege zu feiern’ und sich ‚von ganzem Herzen zu lieben’. 

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt-Verlag

Sachbuchtipp April 2023

© erf

Via Crucis & Weltenfülle

Innenansichten

 

 Gestern war ich noch mitten im Leben,

heute bin ich draußen

und sehr real mit dem konfrontiert,

was wir alle wissen,

die meisten irgendwie verdrängen,

ich aber nicht mehr

ausblenden kann: dass wir alle sterben müssen.

Arno Luik

 

Arno Luik, Rauhnächte, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2023

 

Mit Innenansichten in Form von Tagebuchnotizen in zwölf Kapiteln, entsprechend den zwölf Rauhnächten, eingerahmt in eine Art Pro- und Epilog unter dem Titel „Merkwürdige Zeiten“, wartet der vielfach ausgezeichnete Journalist Arno Luik hier anlässlich seiner Krebserkrankung auf. Doch entgegen den Rauhnächten zwischen 25. Dezember und 6. Januar, die spirituell konnotiert sind und denen eine Begegnung der unsichtbaren Anderwelt mit ihren Engeln und Dämonen mit unserer irdischen zugeschrieben wird, gehen Luiks Rauhnächte vom 19. September 2022 bis zum 1. Januar 2023. Und auch wenn Luik nicht viel auf Spiritualität und Esoterik gibt, Engel und Dämonen, bildlich gesprochen, begegnen ihm zuhauf. Zugegeben vornehmlich Letztere. So die Dämonen der Angst, die Dämonen der Unruhe und der schlaflosen Nächte, Dämonen der Einsamkeit. Nicht zuletzt aber sind es zugleich die Dämonen im Außen. Die Schieflage einer Welt im Wandel, die zunehmend aus der Balance von einer Krise mit ihren Schreckensnachrichten in die nächste zu driften scheint. Einer Welt im Kriegszustand, der uns jetzt in den Medien durchweg, alternativlos, als Normalzustand suggeriert wird. Als hätte es nie eine stets auf Profit bedachte Rüstungsindustrie gegeben und es nicht immer schon so gewesen ist, dass Waffen, erst einmal ‚an den Mann gebracht‘, nicht auch zum Einsatz gekommen wären.

Luik, nicht nur Koryphäe seines Fachs – wem sind seine Verdienste im Zuge der Aufdeckung der Skandale um Stuttgart 21 oder unhaltbarer Zustände bei der Deutschen Bahn nicht entgangen –, sondern auch entschiedener Pazifist, wacher Zeitgenosse und Chronist, dabei durch und durch menschlich. Seine Krebs-Diagnose, wie hier nahegebracht, liest sich wie eine umfassende Revolte. Eine Revolte nicht nur gegen den eigenen Körper, sondern auch gegen die Politik einer augenscheinlich aus den Fugen geratenden Welt. So ist es immer auch das politische Geschehen, das ihn umtreibt, so dass die Analogie des Kriegszustands, sei es im Außen, sei es in seinem Inneren, kaum zu überlesen ist. Und als Art Star-Journalist an vorderster Front immer schon eng mit dem Weltengeschehen verwoben, was in diesen Aufzeichnungen auch facettenreich erinnert wird und zur Sprache kommt, bersten seine Aufzeichnungen geradezu – und darin liegt eine bemerkenswerte Ambivalenz – vor Lebendigkeit und Weltenfülle. So nehmen wir teil an seinen Lektüren, etwa der packenden Autobiografie Werner Herzogs von martialischer Energie, Jeder für sich und Gott gegen alle. Wobei die Grenze zwischen dem Politischen und dem persönlichen Erleben aufgehoben scheint: Fassungslosigkeit, Wut, Empörung, Ohnmacht, Angst – kurz die

 

Zumutungen des Lebens kommen hier drastisch zur Sprache, kommen zur Sprache in Form eines Aufschreis. Aber diesem Schrei, an Edvard Munchs die menschliche Angst verkörperndes Gemälde gleichen Titels gemahnend, wohnt eine ungeheure Vitalität inne, Lebenslust und Fülle ex negativo sozusagen.

Denn wo Luik Bilanz zieht über sein Leben, nicht zuletzt als Enthüllungs-Journalist, wartet er mit jeder Menge erhellender Hintergrundinformationen auf, die am Durchschnittsbürger mehr oder weniger vorbeirauschen und die einem die letzten Illusionen rauben können. So etwa im Hinblick auf seine Zeit als Chefredakteur bei der TAZ in den 1990er Jahren, die sich von den an die Macht drängenden Grünen unter Joschka Fischer zu deren Sprachrohr küren ließ, damit einhergehend, das Ja zur Bundeswehr, bis dato Tabu. Gefolgt vom Ja zur Nato und Bereitschaft zum sich abzeichnenden Angriffskrieg gegen Serbien. Laut Luik der Beginn einer Umerziehung vom ‚Nie wieder Krieg, ausgehend von deutschem Boden‘ zur zunehmenden Remilitarisierung und Gewöhnung daran. Schon damals ging es also darum, „den grün-alternativen Pazifismus, dieses lästige Gedankengut, auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.“ Leseprobe Indessen kann es einem schon mal die Sprache verschlagen, wenn seitens der Medien nahezu unisono jeder Einwand gegen die Lieferung schwerer Geschütze in die Ukraine als Affront gegen die Menschlichkeit gegeißelt wird.

Luik, ein Familienmensch, seiner schwäbischen Heimat verbunden, bodenständig, kommt rüber als einer, der den Dingen auf den Grund geht. Und das nicht nur, was das gesellschafts-politische Geschehen anbelangt. So hat er mit großer Empathie den an Parkinson leidenden ehemaligen Stuttgarter Bürgermeister Manfred Rommel oder kurz vor seinem Krebstod den Pädagogen, Familientherapeut, Journalist und Medienmanager Wolfgang Bergmann interviewt. Ganz zu schweigen von der Begleitung seiner eigenen Schwester, die qualvoll an ALS verstorben ist. Alles Erfahrungen, die ihn schon vorher gelehrt haben mochten, was ihm auch Erwin Chargaff, seines Zeichens Chemiker und Schriftsteller, in erster Linie aber einer der großen Humanisten des vorigen Jahrhunderts, den wenige Monate vor seinem Tod zu interviewen er gleichwohl die Ehre hatte, bestätigte: „Ohne Schmerz, Leid und Trauer ist man kein Mensch.“ Empfand Luik diese Erkenntnis damals „voll tiefer Weisheit“, bekennt er indessen, dass er ‚heute froh wäre, da wären weniger Schmerz, Leid, Trauer‘. Doch sind es eben jene schmerzvollen, im wahrsten Sinne „Herz zerreißenden“ Momente, die mit am meisten berühren:

„Barbara kommt vom Einkaufen, ich höre sie im Flur, sie reißt die Tür zum Wohnzimmer auf, noch im Mantel wirft sie sich auf mich, es schüttelt sie, sie zittert. Sie weint hemmungslos. Was ist los, Barbara? Wir umarmen uns wie Verzweifelte; wir umklammern uns wie Ertrinkende. »Ich habe grad so eine schöne Straßenmusik gehört. Ich habe mitgesungen. Ein paar Sekunden lang war alles weg, unsere Verzweiflung vergessen.«“ Leseprobe

Oder die Verbundenheit mit dem zutiefst menschlichen, vielseitig begabten schwäbischen Koch, Autor und Musiker Vincent Klink, der seine Frau, die Liebe seines Lebens, nicht lange her, durch Krebs verloren hatte, wie sie in dessen Zeilen zum Jahreswechsel zum Ausdruck kommt: „Liebe Barbara, lieber Arno, Euch und mir, allen wünsche ich, dass wir einigermaßen die Spur halten können.“ Leseprobe

Flüchtige Szenen wie diese: „Neben mir hing eine sehr junge Frau am Tropf. Dem Arzt erzählte sie von heftigen Problemen mit ihrer Chemo. Als ich gehen kann, sage ich zu ihr: »Ich wünsche Ihnen alles Gute!« Sie: »Ich Ihnen auch.« Und dann weint sie.“ Leseprobe

„Rauhnächte“, radikale Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und „Via Crucis“ par excellence, konfrontiert wiederum den Leser, und sei es als Leerstelle, mit dieser unstillbaren Sehnsucht nach wahrem, lebendigem Leben, Sein und Tun. Möge sich Luiks Traum, im schwäbischen Königsbronn „im April zu einem Festmahl unterm blühenden Kirschbaum“ einzuladen, [u]nd ... alle dann glücklich & unbeschwert sind“, Leseprobe indessen erfüllt haben. Wir wünschen es ihm von Herzen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Westend Verlag in Frankfurt am Main 

Buchtipp des Monats April 2023

 

© erf  Aufbruch ins Offene

 Stille und unerklärte Lieben werden zu flügellosen Engeln,

 der Schwerkraft unterworfen, genau wie wir. Etel Adnan

 

Love doesn’t die when we die ... it is our resurrection.

(Zettel, an Etel Adnans Pinnwand geheftet)

 

Etel Adnan, Die Stille verschieben. Prosa, aus dem Englischen übersetzt und mit einem Vorwort von Klaudia Rutschkowski, Edition Nautilus, Hamburg 2022

Lebendigkeit und Luzidität, die von diesem letzten Band Etel Adnans (*1925, †2021) ausstrahlen, verdanken sich dem Wissen um die eigene Sterblichkeit, dem Bewusstsein der Todesnähe der hochbetagten Dichterin, Malerin und Philosophin. Der Schmerz, geliebte Orte nicht mehr besuchen zu können, zieht sich durch den Band. So auch der Abschied von dem Wunsch, in Delphi zu sterben. „Die Füße auf Delphis Felsen zu setzen, ist es wert, verdammt zu werden ... Für mich wird der Schmerz des Sterbens in der Unmöglichkeit bestehen, diese Stätte noch einmal zu besuchen.“ Leseprobe

Kontrapunktisch hierzu die unverbrüchliche Liebe Adnans zu den Ozeanen, „eine Form unaufhaltsamen Lebens“ Leseprobe  Einer Liebe, einhergehend mit einer grundlegenden Melancholie, im Zuge derer Verluste weniger betrauert als vielmehr hingenommen werden. Hingenommen in der Haltung eines Nichtwissens, was kommen mag, nicht ohne die bange Erwartung eines unbestimmten Größeren, das zu erfahren uns vorbehalten sein könnte.

Auch verrät Adnan uns in diesen letzten Art Notaten, aus denen „Die Stille verschieben“ besteht, etwas über ihre ganz eigene Poetik, die nicht zuletzt mit derzeit zunehmend zu beobachtenden autofiktionalen Literaturen korrespondiert oder aber in gleichwohl immer häufiger anzutreffenden essayistischen Texten ihren Niederschlag findet: „Erzählung ist eine veraltete Form. Sie ist prähistorisch.“ Eine „Übung in Vergeblichkeit“ Leseprobe, im Verschwinden begriffen. Oder eine „Maskerade der Angst“ Leseprobe, die ‚uns nirgendwo hinträgt, außer zu den falschen Verlagen‘ Leseprobe. Naheliegend, dass dem traditionellen Erzählen im Zuge der Dichte und rasanten Aufeinanderfolge der Ereignisse, weltweiter Krisen und Katastrophen die dafür notwendige Distanz sowie entsprechende Kohärenz verwehrt ist.

Der gesamte Text, kaleidoskopartig aufgefächert, fragmentarisch, konfrontiert den Leser durchweg mit Fragen um die Vergeblichkeit menschlichen Strebens.  So etwa auch die augenscheinliche Absurdität des eigenen Schreibens: „Und warum schreibe ich dann diese Zeilen, die der Welt nicht viel bringen? Eins von den Dingen, die Menschen tun, nichts weiter. In jedem von uns steckt der verborgene Glaube, irgendwie zu zählen, so wie wir sagen Black Lives Matter. Das stimmt.“ Leseprobe

Zugleich wird diese melancholische Grundierung immer wieder konterkariert mit einer unbändig anmutenden Sehnsucht nach Lebendigkeit, die die inneren Mauern zu sprengen vermag, die uns an einer Koexistenz von Mensch, Natur und Mitgeschöpfen in Frieden, Freiheit und gegenseitigem Respekt hindert: „Lasst uns springen und tauchen, dem Wind folgen, nass werden, uns sogar wehtun, lasst uns dem Yellowstone River die Chance geben, uns so umherzuschleudern wie Baumstämme und Lachse, lasst uns seine Gewohnheiten auf unsere trägen Gehirne übertragen!“ Leseprobe

Am Ende bewegt sich das Schreiben Adnans dem Zentrum ihres Seins zu, dem Kern der Existenz die Stille. So die Stille in den Winkeln der Kathedralen, oder die besondere Stille mancher Berge. Stille, einhergehend mit einer Weite, die sich ins Offene dehnt, sich verschiebt, einhergehend mit der Dunkelheit, die den Gezeiten ihren Glanz verleiht. Zeiten, in denen sich das Denken zurückzieht, was laut Adnan keinen Verlust bedeutet. „Lange Zeiten innerer Stille sorgen für Klärungen, sie lassen das Licht ein, die Überflutung, die Blendung, die Verzauberung. Wir brauchen Räume, um neue Karten zu mischen ...“ Leseprobe

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt Edition Nautilus!

Buchtipp des Monats März 2023

 

© erf  Vom Verschieben der Zeit

 

Etel Adnan, Zeit. Gedichte, mit einem Nachwort von Klaudia Rutschkowski, Edition Nautilus, Hamburg 2021

„Schreiben stammt aus einem Dialog/mit der Zeit: es besteht/aus einem Spiegel, in dem das Denken/entblößt wird und sich/ nicht mehr erkennt“ Leseprobe besagter Gedichtband in fünf Zeilen auf den Punkt gebracht, lyrische Zeichen aus Werden und Vergehen.

Anlass, die hier versammelten Poeme zu Papier zu bringen, war eine Postkarte, die Adnan am 27. Oktober 2003 von ihrem langjährigen Freund, dem tunesischen Dichter Khaled Najar, erhielt. Ihre Antwort erfolgte umgehend und ist hier in der ersten von sechs Sequenzen unter dem Titel „27. Oktober 2003“ nachzulesen. Insgesamt 13 Jahre steht sie im Zuge der Arbeit an dem Gedichtband im Austausch mit dem Dichterfreund. 2016 schließt sie ihn unter dem Titel „Baalbek“ ab für Adnan mit seinen Tempeln und Ruinen ein mythischer Ort und Provinzhauptstadt im Libanon. Zusammen mit der New Yorker Dichterin und Künstlerin Sarah Riggs überträgt sie ihn aus dem Französischen ins Englische und wird 2020 dafür mit dem Griffin Poetry Prize, dem weltweit höchst dotierten Lyrikpreis, ausgezeichnet.

Die freien Verse fließen, einem reißerischen (Bewusstseins-) Strom gleich, in ein nicht definierbares Offenes, das die Grenzen unserer in Vorgaben und Konventionen gefangenen Wahrnehmungsmuster außer Kraft setzt: „in virtueller Klarheit und virtuellem Raum/vom Göttlichen heimgesucht, singen die Vögel vor/Ohren der Kerzen den Schmerz des Lebens,/denn Glück ist unerträglich ...“ Lesesprobe Zugleich ziehen sich Trauer und Schmerz angesichts der Vergeblichkeit menschlichen Strebens, der Diskrepanz zwischen Schönheit und enthusiastischer Feier des Lebens, der Liebe und der Allgegenwärtigkeit von Tod, Gewalt und Zerstörung wie eine Blutspur durch den gesamten Gedichtband. Dies gemahnt an Walter Benjamins „Angelus Novus“, einem Gemälde von Paul Klee, von Benjamin als Denkbild unter dem Titel „Engel der Geschichte“ ausgewiesen, mit rückwärtigem Blick auf die Geschichte des Menschen, einer einzigen Katastrophe, wo Trümmer auf Trümmer sich häuften.

„ich liebe den Regen, wenn er/mich wie ein Fluss/umfängt. mich in die Wolken verpflanzt./ich teile das Eigentum/des Himmels. ich wachse/wie ein Baum ...“ Lesesprobe Die unverbrüchliche Liebe zur Erde und ihrer schöpferischen Energie Adnans Mutter lehrte sie das Brot zu küssen und sich bei der Erde, die uns trägt, zu bedanken wird konterkariert durch das Unvermögen des Menschen, dies Gut als seine Lebensgrundlage entsprechend wertzuschätzen, es vielmehr in rasanter Manier zunehmender Zerstörung preiszugeben.

„Sterne verlöschen/alle paar Sekunden; die Zeit,/die Information braucht, um/Welten zu durchqueren ...“  Zeit, linear und chronologisch als Strukturprinzip, erweist sich bei Adnan gleichwohl als vergebliche Kategorie, „wenn wir schreiben, können wir nicht/singen, wenn wir schlafen, können wir/nicht leben//Erinnerung ist die meiste Zeit/für nichts gut: die Hotels, in denen ich wartete,/sind verschwunden ...“ Leseprobe Halt- und rastlos scheint der Mensch seiner Existenz ausgesetzt, Ambivalenz und Zerrissenheit erweisen sich als Kehrseite der menschlichen Ordnungen. Und so taumeln wir als Spezies offenbar auf eine Art Nullpunkt zu, kurz davor, uns selbst auszulöschen, „sieh deine Brüder im Fernsehen/sterben, und rühr dich nicht ...“ Leseprobe , oder aber, wie es die Verse Adnans nahelegen mögen, unser Bewusstsein in eine andere Dimension, eine Dimension kosmischen Ausmaßes, zu transzendieren: „sie sind in einer neuen Welt,/wenn auch ohne Ausgang ...“ Leseprobe

Eben dies leistet die Lyrik Adnans, in der sich hinter vordergründigem Chaos und Zerstörungswut Liebe und Zugewandtheit zum Menschen, zur Welt, zur Natur, dem Meer und den Bergen, und zur Kunst Bahn brechen, die Zeit sich auflöst in ein ewiges Sein und kosmisches Bewusstsein, das zu erlangen uns aufgetragen sein mag. „verlass deine Kindheit nicht und ihren/Kummer. der erste Wunsch wird dich bis zum letzten/Atemzug begleiten. Straßen führen/zu Erleuchtungen, aber nie zum Frieden/des Herzens“ Leseprobe

 

Ebenso wenig vordergründig vermitteln sich im lyrischen Gestus Adnans Hoffnung oder Trost, als sich vielmehr in ihrer Sprache eine Leuchtkraft manifestiert, die auf etwas Größeres, uns als Spezies jedoch Innewohnendes verweist, das erst noch einzulösen wäre. Adnan erweist sich damit als große Visionärin, ihrer Zeit voraus.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt Edition Nautilus, Hamburg

Buchtipp des Monats Februar - März 2023

 

© erf: Schreiben ohne Geländer

  Die Gefangenschaft ist das menschliche Los. Machen wir uns nichts vor. Etel Adnan in „Paris, Paris” [Prosawerk]

 Die Poesie erfasst das Unsagbare und lässt es ungesagt.

 Etel Adnan in „Die See” [Gross-Poem]

 Etel Adnan: Sturm ohne Wind. Gedichte – Prosa – Essays – Gespräche, herausgegeben von Hanna Mittelstädt und Klaudia Ruschkowski, mit einem Nachwort von Klaudia Ruschkowski, Edition Nautilus, Hamburg 2019

‚Schreiben ohne Geländer‘ möchte man dem literarischen Werk Etel Adnans, Malerin ,Philosophin und Dichterin, in Anverwandlung von Hannah Arendts Diktum „Denken ohne Geländer“ bescheinigen – Arendts Metapher für wahrhaft freies Denken. Einer inneren Freiheit, die sich nicht zuletzt Adnans Wurzeln in unterschiedlichen Kulturen  verdanken mag. Geboren 1925 in Beirut († 2021, Paris), war sie das einzige Kind einer griechischen Mutter und eines syrischen  Offiziers. Während in der Familie türkisch und griechisch, ansonsten arabisch gesprochen wurde, war die Sprache auf dem katholischen Gymnasium wiederum französisch. In vielem  „unfreiwillig Pionierin“, wie sie von sich selbst sagt, zählte sie zu  den ersten jungen Frauen in Beirut, die das Haus verließen, um zu studieren und zu arbeiten. 1949 erlaubte ihr ein Stipendium, ein  Philosophiestudium abzuschließen, auf dem sie 1955 an der  Harvard University, Berkley, aufbaute, um danach an  verschiedenen US-amerikanischen Colleges zu unterrichten. 1972  kehrte sie nach Beirut zurück, arbeitete dort als Redakteurin, bis  der Bürgerkrieg 1978 sie erneut zwang, das Land zu verlassen und nach Paris zurückzukehren, um fortan zwischen Paris und Sausalito, ihrem Wohnsitz in Kalifornien, USA, zu pendeln. 

In Adnans gesamtem Schaffen, durchdrungen von philosophischem Gedankengut ebenso wie vom Blick der Malerin auf die Welt, die Natur, ihrer Beschäftigung mit kosmischen Dimensionen, dem Blick der Dichterin und Literatin, scheinen sich die Grenzen der Wahrnehmung beständig zu verschieben. Nichts bei Adnan ist statisch, vielmehr in stetiger Bewegung begriffen. Und ein solcher Blick auf die sich uns bietenden komplexen Wirklichkeiten scheint umso mehr dazu angetan, an den Gitterstäben des in der Präambel konstatierten ‚menschlichen Loses der Gefangenschaft‘ zu rütteln, um die damit einhergehende Begrenztheit unserer Wahrnehmungsfähigkeit zu transzendieren. Eben dies ist das Verdienst von Adnans Werk, das unter die Oberfläche ins Herzzentrum unserer Existenz zielt, dabei um all das kreist, was uns im Innersten bewegt, wie Liebe und Schmerz, Wandel und Stille, Tod und Vergeblichkeit und Gott aufgehoben in einem Alleins, das wir erahnen, zu dem wir aber nicht ohne Weiteres Zugang haben mögen. Die Schriften der Mystiker etwa zeugen von dieser „fundamentalen Einheit Liebe“ Leseprobe, auf die sich auch Adnan beruft: 

 

„Aber was ist die Liebe? Und was geben wir auf, wenn wir sie aufgeben? Liebe lässt sich nicht beschreiben, man muss sie leben. Wir können sie leugnen, aber wir erkennen sie, wenn sie uns ergreift. Wenn etwas in uns sich unser Ich unterwirft. Gefangener seiner selbst, das ist der Liebende. Ein seltsames Fieber. Und es muss nicht unbedingt ein menschliches Wesen sein, das die Liebe hervorruft. Ein Sonderfall. Ja.“ Leseprobe

Es ist das Verdienst der Herausgeberinnen, der Verlegerin und Gründerin der Edition Nautilus, Übersetzerin und Autorin Hanna Mittelstädt, sowie ihrer Mitstreiterin Klaudia Rutschkowski, gleichfalls Autorin und Übersetzerin, aber auch Dramaturgin und Kuratorin, uns mit Sturm ohne Wind einen veritablen Querschnitt des literarischen Schaffens ebenso wie des (auto)biografischen Hintergrunds Adnans präsentiert zu haben. Dem herausragenden Nachwort Klaudia Rutschkowskis, exzellente Kennerin des gesamten Schaffens Adnans, wiederum verdankt sich die tiefe Einsicht in deren Werk und differenzierte Erhellung der darin enthaltenen poetisch-essayistischen Textvielfalt. So bemerkenswert wie immer wieder überraschend die einheitliche Sicht auf die Dinge des Lebens. Das Politische und das Private wie Betrachtungen der Natur sind darin ebenso präsent wie das scheinbar Banale, das sich bei näherer Betrachtung genauso gut als einzigartig erweisen kann. Um dies adäquat zur Sprache zu bringen, bedient sich Adnan souverän des poetischen Verfahrens des Stream of Consciousness in mimetischer Anverwandlung des Lebensflusses selbst, mal in ruhigerem Fahrwasser, des Öfteren aber in reißerischer Manier. In all ihren Ausführungen erweist sich Adnan als leidenschaftliche Anwältin für das Leben und entschiedene Gegnerin des Kriegs, was ihren Äußerungen dazu schmerzliche Aktualität verleiht: „In der Dichte der Nacht fällt ein Engel herab, zum Zeugnis von Krieg, Verwirrung und Leid. (...) Die Brise erklimmt die Hügel, und der Krieg kehrt auf die Titelseite zurück.“ Leseprobe

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt der Edition Nautilus, Hamburg

Sachbuchtipp des Monats Februar 2023

© Hartmut Fanger

Zu Fuß auf den Spuren Goethes

Willy Winkler: Herbstlicht. Eine Wanderung nach Italien

Rowohlt Verlag, Berlin 2022

 

„«Man streicht herum ohne zu fragen wo man ausgegangen ist und hinkommt.» Goethe am 14. Mai 1778

 

Wie schon in „Deutschland eine Winterreise“ im November 2014 ist Willy Winkler auch hier zu Fuß unterwegs. Diesmal im Herbst und nicht von Hamburg, sondern von Wittenberg aus. Einer Strecke von mehr als tausenddreihundert Kilometern quer durch Deutschland auf Luthers wie auf Goethes Spuren, über die Alpen hinweg, weiter bis nach Italien.

 

Dabei besticht die klare Sicht Winklers auf die Gegebenheiten. Da wird nichts beschönigt oder gar romantisiert. Sei es der flächendeckende Autoverkehr oder die sicht- und erfahrbare Zerstörung von Landschaft und Lebensraum. Reizvoll der mitunter an Sarkasmus grenzende ironische Tenor. So etwa, wenn es um den vorherrschenden Wahlkampf 2021 geht oder die Impfgegner, Querdenker, selbsterklärten Demokratiefeinde während der Pandemie.

 

So erhält der Leser ein differenziertes Bild der Welt aus der Sicht Winklers zu Fuß. Nicht zuletzt begibt sich der Autor vor allem auf die Suche nach Stille, kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass selbst im entlegensten Winkel in irgendeiner Form Lärm vorherrscht. Konterkariert wird dies wiederum im Zuge der Erschließung von Kulturräumen, wie etwa beim Besuch sakraler Bauwerke, deren kunsthistorische Besonderheiten er dem Leser sowohl mit Erkenntnisinteresse als auch angereichert mit Fachwissen kompetent nahebringt. So etwa die Kirche im Rahmen der Zisterzienserabtei Mehrerau, in der „ein naturgemäß verspielter Tabernakel von Hans Arp“ in sinnfälligem Kontrast zur spätmittelalterlichen Mystik platziert ist, vertreten durch einen Kreuzigungsaltar von Aelbert Bouts. Ebenso beschreibt er bis ins Detail genau mittelalterliche Gebäude, in der Regel in Dörfern, aber auch größeren Städten anzutreffen, wie Nürnberg oder Halle.

 

Und natürlich kann die meist unwegsame Strecke nicht ohne Umwege begangen werden. Hindernisse in Form von Einkaufszentren oder Mülldeponien. Von Autobahnen ganz zu schweigen. Da kommen alte wie neue Pilgerwege gerade recht – auch wenn mancherorts die für den Stempel im Pilgerausweis benötigten Kirchen geschlossen sind oder darin gerade eine Hochzeit gefeiert wird. Vieles hat sich gegenüber seiner ersten großen Wanderung verändert. Manches wiederum nicht. So stehen sich – ähnlich wie in „Deutschland eine Winterreise“ – Autofahrer und Fußgänger nicht immer freundlich gegenüber, fehlt es nach wie vor an Rad- und Fußwegen, sodass die Reise streckenweise nur unter Lebensgefahr zu bewältigen ist.

 

Und dann auch noch die Brücken, die es zu überqueren gilt und die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters renovierungsbedürftig sind. Abgesehen von der erheblichen Höhe, die für den Wanderer eine Herausforderung darstellt und seinen ganzen Mut erfordert. So beispielswiese die als ‚technisches Meisterwerk’ bezeichnete, 130 Jahre alte, 266 Meter lange und 85 Meter hohe ‚Bogenbrücke San Michele’. Ursprünglich nicht für Autos gedacht, ist sie heute vielbefahren. Dem Fußgänger bleibt ein schmaler Pfad in schwindelerregender Höhe entlang dem Abgrund ...

 

Nicht zuletzt bewegt sich Winkler auf dem Weg zu Fuß nach Italien auf den Spuren des deutschen Dichterfürsten Goethe. Kaum ein Ort, an dem ihm nicht Zeichen von dessen Verehrung über den Weg laufen. So etwa in den zahlreichen kleinen Ortschaften und Kirchen, gerade im Osten des Landes, wovon Winkler so manche Anekdote zu erzählen weiß. Beispielsweise auf dem Marktplatz von Wörlitz, wo Goethes gesamter Text über Natur und Kunst ‚in eine Granitplatte gemeißelt’ verewigt ist. In dieser Gegend soll er zudem in seiner Jugend sechs Wildschweine geschossen haben und später so etwas wie ein nach Winkler ‚Volksvergnügungsminister’ gewesen sein. Oder Ilmenau, dessen belebtes Ambiente Goethe als Vorbild für seinen Osterspaziergang im Faust gedient haben soll. Unweit davon, auf dem Kickelhahn, die legendäre Entstehungsgeschichte seines wohl berühmtesten Gedichtes Über allen Gipfeln ist Ruh, das er ‚eigenhändig in die Wand der Hütte oben ritzte’, heute noch vor Ort als Kopie zu bewundern. Oder natürlich in Italien, insbesondere Rom, wo er es, Willy Winkler nach, kaum aushielt und ‘gen Süden zog, um den Ausbruch des Vesuvs mitzuerleben.

 

Wie bereits in „Deutschland eine Winterreise“ finden sich auch hier heitere, teils von lakonischer Selbstironie geprägte Schilderungen einer spektakulären Wanderung, stets fußend auf einem fundierten Wissensschatz, was Kultur und Historie betrifft.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag Berlin

Sachbuchtipp des Monats Januar 2023

 ©  Hartmut Fanger:

Bob Dylan’s Favourites

 

Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Conny Lösch, C.H.Beck Verlag, München 2022

Bob Dylan ist immer wieder für eine Überraschung gut. Sechs Jahre, nachdem man ihn mit dem Literaturnobelpreis beehrt hat, erscheint nun der ästhetisch ansprechende, 350 Seiten umfassende Band. Blättert man darin, fallen zunächst die vielen farbigen Graphiken und Fotos ins Auge, die jede Menge Zeitkolorit der vornehmlich in den 50er-, aber auch 60er und 70er Jahren publizierten Lieder transportieren.

Insbesondere bei Dylan-Fans dürfte der musikalische Standpunkt des Meisters von Songklassikern auf reges Interesse stoßen. Von seinen eigenen Songs erwähnt Dylan gerade mal „Subterranean Homesick Blues“. Sehr viel mehr erfahren wir dafür über „London Calling“ von The Clash oder von „Pump It Up“ von Elvis Costello oder Pete Seegers „Waist Deep in the Big Muddy“. Darüber hinaus viel von Frank Sinatra, Elvis Presley und Willie Nelson, von Songs wie „Strangers in the Night“, „Blue Suede Shoes“, „Volare“ oder „The Black Magic Woman“. Nicht zu vergessen, der von Dylan besonders hervorgehoben Ricky Nelson, von dem ‚man behaupten könne, Ricky sei mehr noch als Elvis der eigentliche Botschafter des Rock ‘n Roll gewesen’.

Leidenschaftlich, dabei mit Empathie und jeder Menge Details, bringt Dylan uns den Soundtrack seines Lebens samt Interpreten nahe. In dem Kapitel des gleichnamigen Liedes „Viva Las Vegas“ wird zudem die Stadt als „Scheideweg der modernen Welt“ beschrieben, als „Utopia, Garten Eden, Land der Träume“, aber auch „Spielhölle“, die den ‚letzten Cent koste’. Ein Lied, das für den Ort wirbt und in dem einst die Karriere von Elvis Presley, seinem Interpreten, bergab ging.

Ähnlich Las Vegas, wo Dylan Dean Martin auf dem Höhepunkt seiner Karriere bei zwei nahezu identischen Auftritten im Sands Hotel schildert, wie dessen ‚scheinbar von Konsonanten freien Worte, die sie in die richtige Spur hätten lenken können, sich in unverständliche Abfolgen von Vokalen auflösen‘. Dass Martin ‚trügerisch singe, man ihm keinerlei Anstrengung anmerke, ihn kaum atmen höre’, er dabei „witzig, charmant und besoffen“ gewesen sei, wobei er Letzteres spätestens beim nächsten Auftritt wieder infrage stellt.

Auch Bobby Darin, Art Pendant zu Frank Sinatra, trat in Las Vegas auf, hatte dort allerdings lange nicht so viel Erfolg wie seine Konkurrenten, allen voran Frank Sinatra. Doch mit seiner Version von „Mack the Knife, dem legendären Lied aus der „Dreigroschenoper“ von Bertold Brecht, tat sich für ihn eine neue Dimension auf. Verkörpert es nach Dylan doch jene Subkultur, die Hitler den Garaus gemacht haben soll. Der Song sei eine ‚Moritat’, so Dylan weiter, und Darins Gesang vermutlich ‚besser als der aller anderen’. Dies ist allein insofern schon bedeutsam, als die Chancen auf Erfolg ungleich verteilt waren. So erfahren wir, dass Sinatra zum Beispiel mit einem boxenden Vater und einer Geschäftsfrau als Mutter auf einen starken familiären Hintergrund bauen konnte, Darin dagegen nicht einmal wusste, wer sein Vater überhaupt war.  

Es sind die Details, die kleinen Episoden, eigentlich das, was sich scheinbar nur am Rand oder im Hintergrund eines Songs abzeichnet, was den eigentlichen Reiz von Dylans Ausführungen ausmacht. Das Ganze nicht ohne nostalgische Anwandlungen, fühlt man sich doch so manches Mal in alte Zeiten versetzt und wünschte sich, das eine oder andere Lied noch einmal anzuhören. Am Ende eine Komposition von Texten, die zusammen ein Werk bilden, das nach Fortsetzung ruft und von dem wir uns mehr und mehr wünschen.

Irritierend allein der Titel insofern, als er einen philosophischen Hintergrund suggeriert, die Auswahl jedoch rein subjektiv und somit eher weniger repräsentativ für gleich eine ganze ‚Philosophie des modernen Songs‘ scheint. Allenfalls kann man besagten Titel auch als persönliche Betrachtungsweise verstehen, inwiefern die Auswahl wiederum ihre Berechtigung hat.

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Beck Verlag, München

Sachbuchtipp des Monats Dezember 2022

 © Hartmut Fanger

Springsteen als Poet, Chronist und Erzähler der US-amerikanischen Gesellschaft

marcus s. kleiner: bruce springsteen, Reclam-Verlag, Ditzingen 2022

Rechtzeitig vor Beginn der Europatournee Springsteens im nächsten Jahr ist das 100 Seiten umfassende Büchlein „bruce springsteen“ von  Marcus S. Kleiner im Reclam Verlag erschienen. Bereits das ästhetisch ansprechende Art Cluster auf dem Cover führt in medias res des  Künstlerlebens des „Boss‘“  mit den Schwerpunkten „American Dream“, „E-Street-Band“, „Vietnam“, „Nine Eleven“. Nicht zu vergessen, „Berlin-Weißensee“.

Der Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft Marcus S. Kleiner erzählt, wie er, der damals von Springsteen wenig überzeugt war, dann von einem Freund eines Besseren belehrt und vom einstigen Kritiker zum Fan wurde. Ein persönlicher Zugang zu Musik und Philosophie des Ausnahmemusikers, der sich stets als Komplize der Arbeiterklasse empfindet, sich für die Demokraten, gegen Rassismus und Gewalt und Krieg engagiert, von seiner Freundschaft zu Barak Obama ganz zu schweigen. Gut nachvollziehbar schildert Kleiner all das, was das Faszinosum Springsteen ausmacht. Von dessen unverkennbar rauen Stimme, die leidenschaftlich und tiefgründig Emotionen freisetzt, bis hin zu dem Wir-Gefühl gegenüber seinen Fans, das jedem vermittelt, dazuzugehören.

Nicht zuletzt weist Kleiner darauf hin, dass in all den Liedern Springsteens, die seine oft über drei Stunden andauernden Konzerte füllen, häufig jene Seite Amerikas zur Sprache kommt, die eben nicht in Hochglanzprospekten Einzug gehalten hat. So, wenn darin zum Beispiel von gescheiterten Existenzen, kaputten Beziehungen, Armut, Arbeitslosigkeit und Rassismus die Rede ist. Dementsprechend spielen die in den Songs nach Vorbild des Storytelling erzählten Geschichten oft im Dunkeln. Wie die Nacht eine überhaupt bei Springsteen beliebte Metapher darstellt, was in vielen seiner Songs bereits in der Überschrift zum Tragen kommt, wie „Spirit In The Night“, Because The Night oder „Night“. Allein schon von daher kommt der Superhit „Dancing In The Dark“ nicht von ungefähr.

Sehr schön listet Kleiner entsprechende Springsteen Songs jeweils am Ende eines Kapitels vor dem Hintergrund der Graphik einer Musikkassette als Tipp für eine „Musikpause“ auf. Songs etwa wie „Born To Run, „Born In The USA, „Thunder Road“, The River“, „Blood Brothers“, die Unzählige auf der Welt begeitet und begeistert haben. Dabei versteht es der Autor mit spielerischer Leichtigkeit, gesellschaftspolitische wie kulturelle Hintergründe und musikalische Eigenheiten des Liedermachers und Geschichtenerzählers Springsteen lebendig werden zu lassen. Ebenso dessen Nähe zum Film. Wie auch so mancher Kritiker das Filmische in den erzählten Geschichten seiner Lieder hervorhebt, was in „Streets of Philadelphia“ besonders zum Ausdruck kommen mag und wofür Springsteen einen Oskar für die beste Filmmusik erhalten hat. Wie er sich überhaupt vor Preisen für sein musikalisches Werk kaum retten kann: Schallplatten in Platin und Gold, Grammys, um nur einige hier aufzuzählen, die Aufnahme in die Hall of Fame. 

Aus heutiger Sicht von besonderem Reiz die Schilderung von Springsteens Aufenthalt in Ost-Berlin Weißensee, dessen Konzert kurz vor dem Mauerfall 1989 dazu beigetragen haben mag, das Fass zum Überlaufen zu bringen, wenn er vor Hunderttausenden die  Hoffnung zum Ausdruck bringt, „dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden“. An seine Mitstreiter Wolfgang Niedecken, Thees Uhlmann und Werner Pastula, denen Kleiner in zahlreichen Gesprächen so manche Insiderinformation entlockt hat, appelliert er, es sei ‚an der Zeit, einen Song mit dem Titel Geboren in der BRD zu schreiben’, was wiederum zu denken gibt.  

Musik- und gesellschaftshistorisch auf den Stand gebracht, gewährt das fundierte Büchlein weiteren Einblick in den US-amerikanischen Traum im Werk Bruce Springsteens. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns herzlich beim Reclam-Verlag

Sachbuchtipp des Monats November - Dezember 2022

 

© erf

 

Lesekultur in der Abwärtsspirale?

 

Moritz Baßler, Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens. Verlag C.H. Beck, München 2022

Befragt*, was er unter ‚Populärem Realismus‘ verstehe, antwortet der Autor, Professor für Neue deutsche Literaturwissenschaft in Münster, dass erfolgreiche Erzählliteratur unserer Zeit Verfahren der Vermittlung anwende, die dem Leser einen unmittelbaren, direkten Zugang in die Erzählebene gewährten. ‚Man liest das und ist sofort in der erzählten Welt, die Zeichen, die Sprache selbst, ist kein Hindernis mehr, wie zum Beispiel in den Literaturen der Avantgarde. Das ist markttauglich, lässt sich leicht lesen, läuft gut rein, lässt sich mühelos auch in andere mediale Kanäle übersetzen und ohne Verlust verfilmen‘. Darin wäre auch der Unterschied zwischen Daniel Kehlmann und Sebastian Fitzek gar nicht so groß, arbeiteten doch beide mit diesem Verfahren. ‚Populärer Realismus‘ sei im Übrigen insofern auf Realität bezogen, als er ‚mit denselben abgegriffenen, eingeführten, bewährten Mustern arbeite, die wir für unseren direkten Realitätszugriff haben mit den Klischees, mit dem, was uns geläufig ist, was uns als Erstes einfällt‘. Wenig Rechnung getragen werde dabei der hohen Komplexität unserer Realität. ‚Ist nicht in jedem Ding, in jedem T-Shirt der Produktionsprozess und die ganze Chemie, die ganze Semiotik drin‘. Damit eröffnet Baßler im Anschluss an seinen so viel diskutierten wie umstrittenen Essay „Der neue Midcult“ (Juni 2021) eine immer wieder fällige Debatte um die stilistische Qualität von Gegenwartsliteratur sowie dementsprechender Bewertungskriterien. Den Begriff „Midcult“ wiederum definierte Ende der 80er Umberto Eco als „strukturelle Lüge“, die darin bestehe, dass das Werk vorgebe, bedeutende Kunst zu sein, was die Erzählverfahren, die es anwende, jedoch nicht einlösten, blieben diese doch hinter dem Anspruch innovativer Textverfahren, wie etwa der Avantgarde eigen, zurück. Der Leser wähne sich zwar literarisch auf dem Gipfel der Hochkultur, hat es aber eher mit gut verdaulicher Kost, lediglich aufgeladen mit Bedeutsamkeit, zu tun. Dabei würden keine neuen Horizonte erschlossen, keine Denkräume eröffnet. Vielmehr steht eindimensional das unmittelbare Erleben im Vordergrund. Berechtigter Denkanstoß, der schließlich für die schreibende Zunft erhebliche Relevanz besitzen mag.

 

Nicht zuletzt dürfte der ‚Populäre Realismus‘ in der Definition Baßlers und die damit einhergehende Kritik an den Rezeptionsgepflogenheiten aber auch dem Zeitgeist geschuldet sein. Denn Lesekultur steht im Zeitalter von Digitalisierung, begleitet von Klimakrise, Pandemie, Kriegsgefahr, Inflation, Wegfall bisher feststehend geglaubter Sicherheiten, alles andere als im Zentrum. Damit einhergehend im Übrigen ein gesellschaftlicher Transformationsprozess noch nicht erfassten Ausmaßes, der überdies von jedem seinen Tribut abverlangt. Dass Zeit zum Lesen wiederum ein Luxusgut, immer schon gewesen ist, ist hinlänglich bekannt, auch wenn es immer wieder in Vergessenheit zu geraten scheint. Doch zu welcher Lektüre greifen wir, wenn das Leben auf gleich mehreren Ebenen von Ungewissheit und Existenzsorgen geprägt ist. So unterschiedlich die Beweggründe sein mögen, suchen Leser, neben den kleinen Fluchten, die nicht selten das Abtauchen in Lektüren gewähren, doch immer auch Antworten auf die existenziellen Fragen im Großen wie im Kleinen, die ihr eigenes Leben ausmachen. Die immense Beliebtheit bei einer weitgefächerten Leserschaft der Romane Dörte Hansens, die diese Klaviatur perfekt beherrscht und mit großem Einfühlungsvermögen die teils ausweglos anmutenden Nöte ihrer Figuren, aber auch wiederum deren Ideenreichtum und Eigensinn nahebringt und damit gewiss den Kriterien des ‚Populärer Realismus‘ laut Baßler unterlieg, spricht für sich. Und ja, sind solche Primärbedürfnisse erfüllt, hat der Anspruch, dass die sprachlichen Zeichen, innovativ angeordnet, Impulse bieten, neue Räume zu eröffnen, oft nicht mehr Bestand. Vielmehr mag die Leserschaft in Zeiten fundamentaler Krisen in erster Linie Trost suchen. Die große Lyrikerin und Grande Dame der Literatur, langjährige Lektorin beim Suhrkamp-Verlag, Elisabeth Borchers, *1929, 2013, bestätigte 2004 auf einer Lesung in Hamburg, dass Literatur nicht zuletzt eben diese Aufgabe zukomme, nämlich Trost zu vermitteln.

 

Unter solcher Prämisse kommt dem von Baßler angesteuerten Wertekanon eine noch andere Gewichtung zu. Scheinen die von ihm so einsichtig wie nachvollziehbar beschriebenen, durchaus zu begrüßenden Kriterien zur Qualitätsprüfung stilistischer Verfahren in den Beispielen, die er aufführt, zum Teil dann doch fraglich. So etwa vermisst man Namen wie Felicitas Hoppe, Sibylle Lewitscharoff, Marica Bodrožić, Anna Baar, Helene Hegemann, um nur einige zu nennen, denen durchaus innovatives Potenzial ihrer Literaturen zu bescheinigen wäre.

 

Literaturhistorisch problematisch wiederum die harsche Kritik an Bölls Kurzgeschichten der Nachkriegszeit. Unterscheidet sich die Kurzgeschichte hierzulande doch von der um 1900 aufgekommenen Short-Story  aus den USA insofern, als sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 voll zum Tragen kam. Ein Neuanfang sollte nicht nur in der Politik, sondern auch in der Literatur gemacht werden. ‚Kahlschlag’, der sich mit Hilfe einer einfachen und sachlichen Sprache vom nationalsozialistischen Pathos ab- und sich kritisch mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt. Mag dies dem Qualitätsmaßstab von Baßler auch widerstreben, ist doch in solch historischer Hinsicht Bölls innovativer Ansatz nicht ganz zu leugnen.

 

Wie auch immer Baßlers Vorstoß, ausgehend von der Debatte um den Midcult, bewertet werden mag, ist die hier weiterführende Auseinandersetzung für alle Literatur-Freunde sowie Autor:innen ein nicht zu unterschätzender Gewinn. Nicht zuletzt und hier schließen wir uns Andreas Wirthensohn von der Wiener Zeitung an , „vor allem deshalb lesenswert, weil man sich wunderbar daran reiben kann“.

 Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem C.H. Beck Verlag

  *SWR2 Literatur, Debattengespräch 08.09.2022

 

Buchtipp des Monats November-Dezember 2022

erf: Gott nahe sein in Gottesferne Von der Notwendigkeit, über Erlittenes zu schreiben

In der Welt des funktionalen Menschen verkümmert die Erfahrung existenzieller Gefährdung, das Todes-, Krankheits- und Liebesleben verdorrt, „die Kunst, die immer dem leidenden Menschen zugehört hat und zugehört“, verliert ihr Gegenüber ...

Aus dem Nachwort, „Das Wunder des Romans“, von Lothar Müller

 

Imre Kertész, Heimweh nach dem Tod. Arbeitsbuch zur Entstehung des „Romans eines Schicksallosen“. Herausgegeben und ins Deutsche übertragen von Ingrid Krüger und Pál Kelemen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022

Wenn wir uns hier dem Arbeitsbuch eines Imre Kertész zuwenden, tun wir das nicht zuletzt mit einem gewissen Unbehagen. Einerseits das Bestreben, im Zuge jeder Lektüre zu erforschen, wie geht das überhaupt, schreibend das Leben bewältigen, muss sich diese Frage bei Imre Kertész, der das Konzentrationslager überlebt hat, notgedrungen anders stellen. Inwieweit beuten wir hier Erfahrungen aus dem äußersten Rand menschlicher Existenz aus. Andererseits erscheinen uns gerade diese Extreme bedeutsam. Dann von eben solcher Grenzerfahrung erschließt sich, so die grundlegende Annahme, menschliche Existenz in ihrem Wesenskern, weshalb wir uns, entgegen solcher Art Bedenken, der Erkundung der Vorgehensweise Imre Kertész‘ widmen wollen. Damit ist das oben formulierte Unbehagen nicht gelöst es ist nicht zu lösen –, aber auch nicht übergangen worden, woran uns wiederum gelegen ist.

Ein Credo Imre Kerstész‘ sei sogleich ins Zentrum unserer

Betrachtungen gestellt, nämlich, dass sich zum dichterischen Erlebnis niemals das erhöht, dem wir nachrennen und das uns gefällt, sondern nur das, was wir gezwungen sind zu erleben, unser Schicksal an sich. Leseprobe

Damit einhergehend die Erkenntnis, dass diese Annäherung an den eigenen Erfahrungshorizont nur im Zuge der Erforschung des eigenen Innern zu gewinnen, im Außen nicht zu haben ist.

Imre Kertész ist dreißig und bestreitet seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Musik-Komödien, als er das Arbeitsbuch (1958-1962) in Angriff nimmt. Hinter ihm Jahre erfolglosen Schaffens, was ihn zu der darin vorgenommenen „nüchternen Selbstprüfung“ veranlasst, deren Ertrag das hier vorliegende Arbeitsbuch bildet. Im Original 44 dicht beschriebene Seiten.

Heraus kristallisiert sich im Zuge dessen der Entschluss, die Geschichte seiner Deportation als Zwölfjähriger zu erzählen. Packend nehmen wir als Leser am Ringen Kertész‘ nicht nur um die Wahrhaftigkeit der Erinnerung teil, sondern auch um eine literarisch angemessene Form. Dabei greift er immer wieder auf Lektüreerfahrungen  

Dostojewski, Thomas Mann, Camus    zurück, letzten Endes unabdingbare Voraussetzung jeden tiefergehenden Schreibens. Zugleich eine Frage der Verbundenheit mit uns vorausgegangenen Erfahrungswerten, an die wir, je nach dem Resonanzraum, der sich im Zuge solcher Art von Intertextualität ergibt, anknüpfen. Ist Leid doch eine grundlegend menschliche Erfahrung, bei der wir danach fragen, wie andere vor uns damit umgegangen sind, und wovon große Literaturen immer schon Zeugnis abgelegt haben. Bemerkenswert überdies die differenzierte Reflexion der Zufälligkeit, wem dabei die Opfer-, wem die Täterrolle zukommt. Ebenso wie er verstandesmäßig unhaltbare Ambivalenzen ausleuchtet, etwa das Empfinden morbider Lust im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Unaussprechlichen, aber auch die erinnerte Erfahrung von Momenten des Glücks im Lageralltag. 

Zehn Jahre arbeitet er mit akribischer Gewissenhaftigkeit daran, den erlittenen Einblick in die Abgründe menschlicher Existenz zu erkunden und in die Form eines Romans zu überführen. Allein der Schachzug, ihn aus der unschuldigen Perspektive eines Kindes zu erzählen, verleiht ihm eine so verzweifelte wie tragikomische Note. Und als das Buch endlich erscheint, muss er erleben, dass es in Ungarn zunächst abgelehnt wird und weitere dreißig Jahre dauert, bis es mit dem Erhalt des Nobelpreises endlich der Weltöffentlichkeit bekannt werden sollte.  

Ebenso vielschichtig und komplex sowie geprägt von luzider Einsicht das Fazit, das er schlussendlich zieht und das grundlegend die Fallhöhe des funktionalen Menschen samt dem ihm innewohnenden Gewaltpotenzial skizziert, dem zu entrinnen allenfalls mit List gelingt:

Mit der Akzeptanz dessen, was geschehen ist und was noch geschehen wird, vergeht die Fremdheit gegenüber dem Leben, und wir erreichen auf diese Weise die reinste Erfahrung von Freiheit, die uns die Möglichkeit eröffnet, mit reinem Bewusstsein und erhabener Verachtung weiterzuleben. Leseprobe

 Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag Hamburg 2022

Sachbuchtipp des Monats November 2022

© Hartmut Fanger

Anlässlich der Europa-Tournee 2023

Reloaded: Bruce Springsteens Songtexte in ihrem literarischen Gehalt

Leonardo Colombati:  Bruce Springsteen - Like a Killer in the SunSongtexte, aus dem Italienischen von Johannes von Vacano, Songtexte übersetzt von Heinz Rudolf Kunze, mit einem jeweiligen Vorwort von Ennio Morricone, Wolfgang Niedecken und Dave Marsh, Reclam-Verlag, Ditzingen 2017

Im Sommer 2023 ist es soweit: Der Boss kommt anlässlich seiner bevorstehenden Europa-Tournee auch nach Deutschland. Ein Grund mehr, noch einmal den bemerkenswerten Essay- und Song-Text-Band des Reclam-Verlages hervorzuheben. Auf wohlgemerkt 960 Seiten (!) gewährt dieser einen tiefen Einblick in das Werk des so vielfältigen wie außergewöhnlichen US-amerikanischen Liedermachers und Rockpoeten – von Jazz, Free-Jazz bis Country und Folk, von Rock’n Roll bis vor allem Rock. Wobei den Schwerpunk Colombatis, seines Zeichens Romanautor und Journalist, der literarische Gehalt der Song-Texte Springsteens bildet. Zusehends kristallisiert sich im Zuge dessen heraus, dass Springsteens literarisches Vermögen sich sehr wohl am Werk von Schriftstellern des Rangs eines Herman Melville oder Walt Whitman messen lässt, von dem Nobelpreisträger und Liedermacher Bob Dylan ganz zu schweigen, wie ihm auch von Literaten wie Richard Ford, Stephen King oder Don DeLillo, um nur einige zu nennen, nicht wenig Anerkennung gezollt wird.

 

Gründlich recherchiert, akribisch genau und wissenschaftlich fundiert die Ausführungen Colombatis, der, der Hermeneutik verpflichtet, von Grund auf Leben und Werk Springsteens analysiert, die sich oftmals kaum voneinander trennen lassen. Dabei liefert er jede Menge Hintergrundinformationen, wie etwa Springsteens Herkunft aus New Jersey, Kindheit und Jugend, erhellt die häufig politisch ambitionierten Liedinhalte, bringt überdies seine Kompositionswut und die unermüdliche Feinarbeit an den Texten nahe, die bis zur totalen Erschöpfung heranreichende Bühnenarbeit. Nicht selten dauern seine Konzerte mehr als dreieinhalb Stunden. Immens das Repertoire an Songs. Darunter Superhits wie „Born to Run“, „The River“, „Thunder Road“, „Human Touch“, „Born in the USA“, bis hin zur Film-Musik zu „Streets of Philadelphia“. Die Bandbreite der darin verhandelten Themen unerschöpflich. Von Seite zu Seite erweist sich zugleich die literarische Qualität seiner Songs. Springsteen praktiziert in seinen Liedern das längst auch vom Journalismus adaptierte Storytelling, erzählt Geschichten, die sich, obschon in sich geschlossen, wiederum einer Chronologie gleich von Album zu Album erschließen.

 

Aus einfachen Verhältnissen stammend – Geld war knapp –, bleibt Springsteen in seinen Song-Texten, wo es häufig um soziale Dramen mit strauchelnden Helden geht, bei seinen Wurzeln, setzt sich damit auseinander. So avanciert er überdies zum Chronisten der Kehrseite des US-amerikanischen Traums. Nicht bedient wird das Amerikabild etwa des US-Präsidenten und Republikaners Ronald Reagans, wie uns von Fernsehserien, Filmen oder der Werbung präsentiert. Seine Texte handeln von Menschen, die aus einem ‚Öden Land’, „Badland“, kommen – dem im Übrigen die Verszeile “Like a Killer in the Sun“ für den Titel des Buches entnommen wurde –, von Menschen, die in „Backstreets“, sprich Seitenstraßen, leben und für ihren Unterhalt körperlich hart arbeiten müssen. Und sie handeln von Menschen, die ihren Job verlieren, wie in „The River“, oder kriminell und sozial geächtet auf der Straße landen , wie „Outlaw Pete“. Andere seiner Songhelden wiederum sind im Begriff, aus von Rezession, Arbeitslosigkeit und Verfall betroffenen Städte zu fliehen. Und natürlich äußert er sich musikalisch zu welterschütternden Ereignissen wie Nine Eleven, so etwa in „My City of Ruins“, sowie zunehmend sozialen Problemen wie ‚Armut, Polizeigewalt und Rassismus’, besungen in Titeln wie „This Hard Land“, „Lost in the Flood“, „Skin to Skin“ oder „Murder incorporatet“. Doch so gebrochen das Amerika-Bild in seinen Songs auch sein mag, vermittelt Springsteen stets auch Hoffnung – „Better Days“, „Land of Hope and Dreams“ oder einmal mehr in Anbetracht von Nine Eleven „The Rising“. Sage und schreibe 100 Songs werden hier im Original und in der Übersetzung von keinem anderen als Heinz Rudolf Kunze, seines Zeichens selbst erfolgreicher Musiker, Liedermacher und Komponist, vorgestellt.

 

Doch damit nicht genug, enthält der Band überdies aus der Feder Colombatis den Essay „Der große Amerikanische Roman“ sowie eine Biografie, gefolgt von Diskografie und umfangreichem Anmerkungsapparat samt Werkverzeichnis. Dazuhin eine Fülle nachweisbarer Zitate des Boss‘ sowie Wegbegleitern und Kollegen – neben keinem Geringeren als Barack Obama, Autoren, Literatur- und Musikwissenschaftler, Größen aus der Musikindustrie, u.a. Mick Jagger, Bob Dylan oder John Lennon, von Tom Waits, David Bowie oder Neil Young. Ein Höhepunkt die „Festrede zur Aufnahme Springsteens in die Rock and Roll Hall of Fame“ von Bono aus dem Jahre 1999. Der Leser darf sich hier rundum versorgt fühlen.

 

Unsere Empfehlung: Schon jetzt an Weihnachten denken. Ein Buch nicht nur für Springsteen-Fans, sondern auch jeden Musik- und Literaturliebhaber und ein Muss für alle, die eine der im Nu ausverkauften Karten für eines der begehrten Konzerte im nächsten Jahr ergattert haben. Nicht zuletzt spricht dafür der Sonderpreis von 20 €.

 

 

 

 

 

 

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns herzlich beim Reclam-Verlag.

 

Demnächst als Buchtipp bei schreibfertig auch: „bruce springsteen“ von marcus s. kleiner in der „100 Seiten“-Reihe des RECLAM-Verlages, Ditzingen 2022.

 

Siehe auch: Sachbuchtipp des Monats Dezember 20221: Barack Obama & Bruce Springsteen: "Renegates -Born in the USA" 

Sachbuchtipp des Monats Oktober-November 2022

© erf

Einer, der sich weigert, ohne Träume zu leben

Werner Herzog, Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Carl Hanser Verlag, München 2022

 

ch war wie ein Seiltänzer,

rechts und links Abgründe, aber ich ging weiter,

als sei ich auf einer breiten Straße unterwegs

und nicht auf einem dünnen Kabel.

Werner Herzog

 

Im filmischen Werk Werner Herzogs ebenso wie von den Büchern, die er geschrieben hat*, geht etwas Drastisches aus, etwas Zwingendes.Herzog, sich selbst verpflichteter Abenteurer, zugleich Visionär, der ‚einfach immer nur seine Notwendigkeiten erkannt und ihnen gegenüber Pflichtgefühle entwickelt hat, einer großen Vision zu folgen‘. Ihn interessieren die Extreme, die Ränder, was sich sowohl in seinen Filmen als auch seinen bemerkenswerten Büchern widerspiegelt. Und wie ein roter Faden zieht sich durch sein gesamtes Schaffen das Ringen darum, das Unvorstellbare zu transzendieren und in die Sphäre des Möglichen zu rücken, was nicht zuletzt die Faszination desselben ausmachen mag. Auch hat er keinerlei Risiko gescheut zum Teil unter nahezu unvorstellbaren Umständen , seine Ideen umzusetzen. Und nicht selten schien er dabei vom Pech verfolgt. Kraft holt sich Herzog aus dem Buch Hiob der Bibel, in einer Luther-Übersetzung von 1545, die er, neben Livius, Zweiter Punischer Krieg, beim Drehen von schwierigen Filmen mit im Gepäck hat, „immer bereit, mich allem geradewegs zu stellen, was auch immer die Arbeit und das Leben mir entgegenwerfen würden.“

Leicht mag man in ihm einen Fantasten sehen. Erst bei genauerem Hinschauen kommt man zu dem Schluss, das Gegenteil ist der Fall. Zwar erforscht er in seinem Werk weniger das Gängige als vielmehr Phänomene des Außerordentlichen, jedoch stets unter der Prämisse des Machbaren, einhergehend mit Besonnenheit, was ihn im Übrigen mit Reihold Messner verbindet. Besagte Machbarkeit erkundet er, bei aller Risikobereitschaft, akribisch. Nachzulesen etwa in Kapitel 22, „Ballade vom kleinen Soldaten“, über die Dreharbeiten zu Gascherbrum, der leuchtende Berg (1985), in Kooperation mit Reinhold Messner.

Überdies folgt sein Schaffen dem Credo „Die Welt eröffnet sich dem, der zu Fuß unterwegs ist“, was ihn wiederum mit Bruce Chatwin verbindet, der sich als Reisender tief der nomadischen Kultur verpflichtet sieht und im Beginn der Sesshaftigkeit den Ursprung all der ökologischen Krisen zu erkennen glaubt, mit denen wir heute konfrontiert sind. Als Chatwin schließlich seinem Aidsleiden erliegt, weilt Herzog, ihn auf der letzten Wegstrecke begleitend, an seinem Sterbebett.

Ein einzigartiges Zeugnis, das Leben zu Fuß zu meistern, nicht zuletzt aber auch von Herzogs schamanisch anmutendem Vermögen, ist in „Gang durch das Eis“ nachlesen bzw. im von Herzog selbst gesprochenen Hörbuch nachzuhören. Mit erzählerischer Wucht beschreibt er den unbedingten Willen, der sich seiner bemächtigt hat, die, wie ihm zu Ohren kam, im Sterben liegende deutsch-französische Filmhistorikerin und -kritikerin Lotte Eisner eben davon abzuhalten. „Lotte Eisner darf nicht sterben, nicht jetzt. Ich erlaube es nicht …“ beschwört er sein Vorhaben, einem so entbehrungsreichen wie überaus beschwerlichen, 21 Tage währenden Marsch von München nach Paris, wo er Mitte Dezember völlig erschöpft ankommt. Lotte Eisner gesundet daraufhin tatsächlich wie durch ein Wunder und lebt danach noch acht Jahre. Am Ende lebenssatt, bittet ihn scherzhaft die indessen 88jährige, er möge den Fluch des Weiterlebens von ihr nehmen, was er ebenso scherzhaft verspricht. Nach knapp einer Woche stirbt Lotte Eisner.

Was er noch dem Gehen zuschreibt, ist die Erkenntnis, dass ‚sich die Bedeutung der Welt aus dem Kleinsten, sonst nie Beachteten ableite, dies der Stoff sei, aus dem sich die Welt ganz neu ergebe‘, woraus sich wiederum der immense Erfahrungsreichtum ergibt, der sein Leben, wie in diesen Erinnerungen nun zugängig, ausmacht.

Schließen wir hier mit einem letzten Herzogschen Credo, gleichwohl als Fundament seines Schaffens zu erachten: „Erst die Poesie, erst die Erfindung der Dichter, kann eine tiefere Schicht, eine Art von Wahrheit sichtbar machen“, was wir unterstreichen möchten, ebenso wie wir Ihnen die durchweg packenden Lebenserinnerungen Herzogs nur ans Herz legen können.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag

 

*Eroberung des Nutzlosen (Hörbuchfassung, 2CDs), Winter und Winter, München 2013, Das Dämmern der Welt,

Carl Hanser Verlag, München 2021, Vom Gehen im Eis. München-Paris 23.11.-  14.12.1974, tacheles!/RoofMusic, Bochum 2022

 

 

Sachbuchtipp des Monats August-September 2022

© erf

Schattenseite der Karrierefrau

 Eva Biringer: Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen, Harper Collins, Hamburg 2022

 Seit Jahren geht laut der hier vorgestellten Studien der Alkoholkonsum deutlich zurück, hat angeblich bei Jugendlichen sogar einen historischen Tiefstand erreicht. Ausgenommen einer Gruppe, nämlich bestens ausgebildeter Frauen in gut bezahlten Jobs, wo er kontinuierlich steigt.

 Diese Frauen um die 30 sind Feministinnen, emanzipiert, beruflich erfolgreich mit entsprechendem Verdienst und karrierebewusst. Sie joggen, achten auf Fitness, Figur und Ernährung. Nicht selten befolgen sie Achtsamkeitskonzepte, machen Yoga, greifen zu Bio.

 Die Frage stellt sich, ob sich in einem schleichenden Prozess mit Feminismus und Alkoholkonsum ein neuer Trend etabliert hat – die Psychotherapeutin Ann Dowsett Johnston spricht gar von einer „Feminisierung der Trinkkultur“. Die Beliebtheit neuer Rosé-Weine und -Sektsorten scheint dies zu bestätigen. „Die Zukunft ist weiblich, der Wein ist pink“ zitiert Biringer die US-Autorin Holly Whitaker aus „Quit Like a Woman“, einem gleichwohl packenden, an Frauen gerichteten Plädoyer für Selbstfürsorge und Selbstverantwortung, statt Flucht in den Alkohol.

 Überdies konstatiert Biringer einen deutlichen Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Anorexie, wie Magersucht oder Bulimie – viele davon Betroffene trinken außerdem. Auch wenn dies insofern wenig plausibel scheint, als Alkohol kalorienreich ist, überdies mit Kontrollverlust einhergeht, wo es bei diesen Ernährungsstörungen doch vornehmlich darum geht, unter keinen Umständen die Kontrolle über den Körper zu verlieren. Ihres Erachtens macht jedoch gerade das darin sich erweisende Paradox Sinn: Man kann nicht permanent leistungsorientiert und kontrolliert sein, braucht ein Ventil, um diesem von allen Seiten spürbaren Druck zu entkommen. Das Trinken, gesellschaftlich nicht nur legitimiert, sondern, zumindest im Rahmen manch beruflicher Zusammenkünfte, geradezu eingefordert, gehört dazu, um „in“ zu sein.

 Hervor sticht die umfassende Recherche nahezu sämtlicher Fakten rund um das Thema. So kann einem der Alkoholkonsum durchaus vergehen, wenn Biringer detailliert die

 damit verbundenen gesundheitlichen Risiken erhellt – von Bluthochdruck, erhöhtem Krebsrisiko, Panikattacken, Zittern, um nur einige zu nennen. Entschieden stellt sie auch den ‚moderaten Alkoholkonsum‘ in Abrede, zitiert hier Vertreter*innen des Verbandes der Ernährungswissenschaftler*innen Österreichs: “Es gibt keine gesunde Menge Alkohol“, sowie eine über Jahrzehnte angelegte Studie des US-Zentrums für Gesundheitsstatistiken, die der Auffassung widerspricht, dass etwa geringe Mengen Rotweins die Herzgesundheit förderten. Ebenso stelle sich die Frage, inwieweit die Rede vom ‚moderaten Alkoholkonsum‘ Auslegungssache sei. Abgesehen von der Tatsache, dass Frauen Alkohol sehr viel schlechter vertrügen als Männer, das gesundheitliche Risiko für sie entsprechend höher liege.

 Beunruhigend überdies die Tatsache, dass ‚weltweit mehr Menschen durch Alkohol als Verkehrsunfälle, illegale Drogen und Verbrechen sterben‘. Ganz zu schweigen von den immensen Kosten für das Gesundheitssystem. Nicht zuletzt wird die Alkohol-Lobby aufs Korn genommen. So etwa mit der Erwähnung Sabine Bätzing-Lichtenthälers (SPD), letzte Politikerin, die als Drogenbeauftragte u. a. versucht hatte, ein Werbeverbot für alkoholische Getränke vor 20:00 Uhr zu erwirken und sich für eine Steuererhöhung auf Alkohol einsetzte – am Beispiel von Island oder Schottland nachweislich hilfreiche Maßnahmen – jedoch kläglich scheiterte.

 Ermutigend hingegen das ausführliche letzte Kapitel, bezeichnenderweise betitelt mit „Der Anfang“, wo Biringer facettenreich Wege nahebringt, die den Ausstieg aus der Sucht begleiten und den Anfang eines Lebens jenseits der Abhängigkeit markieren. Im Grunde lassen diese sich allesamt unter dem Begriff Selbstfürsorge, Selbstliebe, zusammenfassen. Welche Alternativen bieten sich, statt im Alkohol Zuflucht zu suchen. Das fängt damit an, zu tun, was man liebt. Und das ist bei Biringer nicht zuletzt das Schreiben. Daran schließt die Frage, was nährt uns, im konkreten wie im übertragenen Sinn. Was essen wir, womit beschäftigen wir uns, was erfüllt uns, schenkt uns Zufriedenheit, Freude. Zitiert werden, neben eigenen Erfahrungen, jede Menge authentischer Zeugnisse von Betroffenen, die ihre Sucht überwunden haben. Zeugnisse des Aufschwungs in die Selbstwirksamkeit.

 Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt Harper und Collins 

Sachbuchtipp des Monats April-Mai 2022

 

© erf fanger

 

Der Mensch: rastlos zwischen Geburt und Tod

 

László F. Földényi: Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften. Aus dem Ungarischen von Akos Doma, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019.

 

Damit hat László F. Földényi, Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler sowie einer der führenden ungarischen Intellektuellen, uns eine so fein gewobene wie vielfach in Architektur, Film, Literatur und Bildender Kunst gespiegelte Studie nahegebracht, die zugleich als Kulturgeschichte menschlicher Sehnsucht nach Transzendenz ebenso wie ihrer Verwerfung lesbar ist. 2020 wurde er dafür mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

 

Wobei die von dieser Lektüre ausgehende Faszination in der Erschütterung des Autors angesichts des tiefgreifenden Erlebens bestimmter Werke und der ihnen eigenen Aura besteht, die zugleich den Leser ergreift, aber auch auf außergewöhnliche Begegnungen zutrifft. Dominant ist insofern Földényis ganz persönlicher Zugang zu der Materie, was der faktischen Ebene unendlich anmutende, weitere Dimensionen hinzufügt und erkenntnistheoretisch ausgesprochen gewinnträchtig ist. So bilden den Rahmen mit „Der Anfang. Auf dem Rücken liegend“ und dem Schluss, „Das Ende. Zwei Augenpaare“, ganz persönliche Erlebnisse. Sie seien an dieser Stelle deshalb hervorgehoben, weil sie von geradezu berückender Literarizität, gepaart mit sinnlichem Erleben, sind, dabei in hohem Maße verdichtet, einen immensen Empfindungsreichtum zur Sprache bringen. Während in „Der Anfang“ minutiös eine außerkörperliche Erfahrung beschrieben, dabei an die erste Begegnung mit einer Leiche als Kind und dem Geruch des Todes erinnert wird, geht es in das „Das Ende“, gleichwohl minutiös, um die Gegenüberstellung des Blicks des Autors in die Augen seines Sohnes unmittelbar nach dessen Geburt sowie des Blicks in die Augen seines Vaters unmittelbar nach dessen Tod.

 

Die Leerstelle zwischen Geburt und Tod, innerhalb derer sich die menschliche Existenz bewegt, und die großen damit verbundenen Fragen nach dem Woher, Wohin, Wozu ist das zentrale Motiv, um welches die Betrachtungen Földényis kreisen und das sich, ohne explizit benannt zu werden, wie eine Art Subtext oder Hintergrundmelodie durch das gesamte Buch zieht. Besagte Leerstelle, der der Mensch ausgesetzt und deren Dreh- und Angelpunkt die Angst vor dem Tod ist, bildet die Grundierung in Földéniys Streifzügen durch die mannigfaltigen Erscheinungsformen der Melancholie – für ihn ein Lebensthema. Einhergehen tun sie, so Földényi im Interview mit Joachim Scholl vom Deutschlandfunk, immer mit diesen ihm selbst rätselhaften Augenblicken, wo einen das Gefühl beschleicht, aus Zeit und Raum gefallen zu sein. Erleben, das an die Zeitqualität des Gottes Kairos gemahnt, diesen glücklichen Moment des Eingedenkens oder auch zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein. Im Gegensatz zu Gott Chronos, der die linear fortschreitende Zeit verkörpert. Während Letzteres den Takt unseres Alltags dominiert, erleben wir Ersteres immer dann, wenn uns etwas überwältigt. Etwa bei der Betrachtung eines Kunstwerks, beim Bestaunen gotischer Kathedralen, beim Hören von Musik oder in der Natur, bei einem Sonnenaufgang am Meer, einem Spaziergang durch den Wald. Auch hier tritt die Zeit-Raum-Dimension zugunsten eines erweiterten Bewusstseins, das ganz im Hier und Jetzt verankert scheint, einer Einheitserfahrung gleichkommend, in den Hintergrund und bringt uns mit einer tiefer fußenden Wahrheit in Kontakt, einer Wahrheit, die uns mit unserer so unerbittlich wie unausweichlich anmutenden Endlichkeit versöhnen mag. Dies sind in der Auffassung von Földényi die Momente, denen Melancholie innewohnt.

 

Einen solchen beschreibt er denn auch eindrücklich im ersten Abschnitt seiner „Einführung“ unter dem Titel Melancolía. Auch dies eine Art Einheitserfahrung während der Fahrt im überfüllten Bus von Madrid nach Guadulupe um die Osterzeit, der sich durch eine gesteigerte Wahrnehmung seiner Umgebung auszeichnet, während das Ich in Auflösung begriffen scheint:

 

„Als wäre ich ein Bruchstück, das aber nicht aus etwas herausgebrochen wurde, sondern genau so, als Bruchstück ganz und endgültig war. Kristallklar erkannte ich, dass es auch eine Perspektive gab, aus der betrachtet es gleichgültig war, ob ich existierte oder nicht, denn wenn ja, war das Universum auf diese Weise vollkommen, und wenn nicht, dann eben auf jene.“ Leseprobe

 

Im Folgenden schlägt Földényi zunächst eine Brücke zu Dürers Gemälde Melancholia, wo er anhand des dort wie ein Fremdkörper sich findenden Polyeders, der in keinem Verhältnis zu den übrigen Details des Gemäldes steht, den rätselhaften Charakter der Melancholie herauskristallisiert. Fortgeführt wird besagter Polyeder wiederum gleich zu Beginn des Kultfilms „Odyssee im Weltraum 2001“ ebenso wie er in der einzigartigen Architektur der Bruder-Klaus-Kapelle von Peter Zumthor in der Eiffel, gefolgt von vielfältigen weiteren Spiegelungen, fortgedacht wird. Sei es im Werk Anselm Kiefers, Josef Beuys‘, Gerhard Richters, Giovanni Segantinis, im literarischen Werk W.G. Sebalds, um nur einige hier aufzuführen.

 

Insofern gewährt die Lektüre zugleich einen so kenntnisreichen wie vielfältigen, dabei immer wieder packenden Streifzug voller Lebendigkeit durch die Kunst- und Kulturgeschichte der Neuzeit von immenser Dichte und beachtlicher stilistischer Qualität.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Matthes & Seitz, Berlin

 

Sachbuchtipp des Monats April-Mai 2022

 

© erf fanger:

Zwei BemerkenswerteEssaybände einer US-amerikanischen Ikone

 

Ich schreibe ausschließlich, um herauszufinden, was ich denke,

was ich anschaue, was ich sehe

und was das bedeutet. Joan Didion 

                        

 

Joan Didion: Was ich meine, Ullstein Verlag, Berlin 2022, Joan Didion: Wir schreiben Geschichten, um zu leben, Ullstein Verlag, Berlin 2021. Beide Bände aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Antje Rávik Strubel.

 

Die preisgekrönte Joan Didion (*1934, † 23.12.2021), hierzulande eher

Geheimtipp als einem breiteren Publikum geläufig, gilt als eine der führenden Intellektuellen der USA. Neben ihren journalistischen Arbeiten und Essays, in denen sie dem sprichwörtlichen US-amerikanischen „Way of life“, diesem zweifelhaften ‚Traum von Freiheit‘, auf den Zahn fühlt, war sie Mitherausgeberin von Vogue und hat fünf Romane geschrieben.

 

International und auch dem breiteren deutschen Publikum bekannt wurde sie mit „Das Jahr des magischen Denkens“ (2005), einem Trauerprotokoll anlässlich des plötzlichen Todes ihres Mannes und der lebensbedrohlichen Erkrankung im selben Jahr ihrer Adoptivtochter.

 

 

Wie bereits aus der Präambel ersichtlich, ist Lesen und Schreiben für Didion ein Erkenntnisprozess. Wobei sie weniger die großen Themen interessieren als vielmehr die Peripherie. Von den Rändern her betrachtet, erschließt sich Didion die brutale Mechanik des Ganzen, ausgerichtet einzig auf Zweckmäßigkeit und Wirtschaftsinteressen, in der der Mensch sich aufreibt und verschleißt.

 

Doch während, von der Westküste Kaliforniens ausgehend, die Hippie-Bewegung, gefolgt von Black-Power-, Frauen- und Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg, augenscheinlich einen Wertewandel ankündigen, stellt Didion deren emanzipatorischen Gehalt eher infrage und kristallisiert vielmehr die Defizite im Hinblick auf deren politischer Zielsetzung heraus. Scharfsichtig nimmt sie im Zuge dessen schon seit den frühen 60er Jahren die zunehmend sich formierende Rechte ins Visier, die 2017 in der Wahl Donald Trumps gipfelt. In einem Interview sagte Didion einmal den bemerkenswerten Satz: „Man ist verpflichtet, Dinge zu tun, die man für sinnlos hält. Es ist wie leben.“ Ein Gefühl, das einen bei jedem Wahlgang beschleichen mag, oder etwa auf einer Demo, deren grundlegende Message wir zwar teilen mögen, zugleich aber nicht selten befremdet sind, wenn wir uns inmitten einer Menge wiederfinden, die anachronistisch anmutende Slogans in Sprechchören von sich gibt, um nur wenige Beispiele zu nennen. Wir gehen in der Regel darüber hinweg, während Didion eben diese Ambivalenz in den Blick nimmt, den Finger auf die Wunde legt.

 

 

In dem Essayband „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“ (2021) finden sich wegweisende Beiträge wie etwa „Mir will dieses Monster nicht aus dem Kopf“, wo Didion die Programmmacher der Filmindustrie Hollywoods aufs Korn nimmt und ihnen „fehlende Einbildungskraft und Schlamperei im Denken“ vorwirft, was sich leicht auf diejenige der deutschen Fernsehproduzenten übertragen lassen mag. Inwieweit sich ihr Denken, neben der Schule des „New Jounalism“*, an der kulturkritischen Sicht Joseph Conrads „Herz der Finsternis geschult hat, entnehmen wir dem Beitrag „Am Morgen nach den 60er Jahren“, wo so manche Hoffnung in dieser Zeit der emanzipatorischen Aufbrüche nach und nach zerplatzt ist und in erneuten Rückschritt mündete.

 

Ein Glücksfall wiederum ist die Auswahl in dem jüngsten Essayband aus 2022, „Was ich meine“, insofern, als Didion diese unmittelbar vor ihrem Tod, als Art Vermächtnis, noch selbst getroffen und auf den Weg gebracht hat. Dort finden sich, neben Beiträgen zu entscheidenden gesellschaftspolitischen Debatten, nicht zuletzt wesentliche Essays zum Kern ihres Wirkens, nämlich dem Schreiben selbst, einhergehend mit sprachskeptischer Reflektion desselben. So etwa „Why I write“ oder „Alicia und die Untergrundpresse“, wo sie ihrem Zweifel am Anspruch der Objektivität großer Medien Ausdruck verleiht.

 

Charakteristisch für Didions grundlegend Haltung, die sich aus dem Wissen speist, dass Menschen Fehler machen und daher jede gesellschaftliche Ordnung notgedrungen fehlerhaft ist: „Man nimmt sich zurück. (...) Man bleibt still. (...) man bewahrt das Nervensystem vor dem Kurzschluss und versucht, die Katze im Schimmern zu verorten, die Grammatik im Bild.“

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

*Geprägt in den 70er Jahren von Tom Wolfe. Es bezeichnet einen Journalismus, in dem Fakten im Rahmen literarisch erzählter Geschichten – Story-Telling – präsentiert werden, das Gebot der Objektivität unterlaufend. Stattdessen soll der Standpunkt der jeweiligen Autor:innen offen zutage treten.

 

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Ullstein Verlag

 

Sachbuchtipp des Monats Januar - Februar 2022

© Erna R. Fanger

 

Unerhörte Signale: Prophetische Strukturen in der Literatur

Jürgen Wertheimer: Sorry Cassandra! Warum wir unbelehrbar sind konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2021

 

Jürgen Wertheimer, Professor für Internationale Literatur in Tübingen, legt hier so spannende wie alarmierende Ergebnisse des von ihm ins Leben gerufenen Forschungsprojekts vor: Cassandra: Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung.

Strukturiert ist das Ganze in 12 Kapitel, jeweils aufgeteilt in 4 Abschnitte unter dem Titel „Zwischenruf“.  Erschreckend offenbart Wertheimer uns das „Cassandra-Syndrom“, jene fatale Liaison zwischen Wissen und hartnäckigem Nichtwissenwollen. Letzteres wiederum habe insofern System, als dadurch verhindert werde, in die Handlung zu gelangen, etwas zu tun, sprich ‚in die Hand zu nehmen‘. Zwar vermag Literatur weniger, konkrete künftige Ereignisse vorherzusagen als vielmehr seismographisch Strukturen aufzuspüren, die uns unheilvolle Konstellationen mit bedrohlichen Folgen für menschliche Gesellschaften offenbaren.

Dabei geht Wertheimer gleichwohl der Frage nach, wie wir es verstehen, die Wahrnehmung unserer Wirklichkeit so zu verstellen, dass es uns versagt bleibt, daraus Erkenntnisgewinn mit entsprechendem Hang zur Handlung zu ziehen. Obwohl es an Daten, Fakten, ja geradezu einer Flut an Informationen im Zeitalter der Digitalisierung wahrlich nicht fehlt – eher ist das Gegenteil der Fall. Und das, obwohl seit der Antike immer wieder Mahner:innen ihre Stimmen erhoben haben. Als Stimmen moderner Mahner:innen aus jüngster Zeit werden etwa Susan Sonntag, Juli Zeh, Michel Houellebecq, Amos Oz oder der israelische Schriftsteller David Grossmann betrachtet, alle hochgeschätzt, hochgeachtet.

 

Doch bleibt es letztlich bei unerhörten Signalen. Denn ihnen nachzugehen, bedeutet, sich aus der Komfortzone, sei es politisch, sei es privat, herauszubequemen und den Finger in die Wunde zu legen, wofür man bekanntermaßen selten Beifall erntet.

 

Nicht zu unterschätzen sind dabei Unabhängigkeit und Freiheit der Literatur, deren Funktion es ist – neben der zu unterhalten –, verkrustete Verhältnisse aufzubrechen und deren dunkle Stellen zu erhellen. Wobei es hingegen in Politik und Wirtschaft weniger um Wahrhaftigkeit und Erkenntnisgewinn als vielmehr um den Erhalt und Ausbau von Machtverhältnissen geht. Ungeachtet der Bedeutung für das Individuum „kann [Literatur] sozusagen in die Eingeweide einer Gesellschaft schauen“. Leseprobe.

Dementsprechend wohnt Literaturen ein immenses Potenzial inne, das uns in vielfältiger Spiegelung Gefahrenzonen für die menschliche Spezies, aber auch zugleich ihrer Mitgeschöpfe vor Augen führt, das jedoch, machen wir es uns nicht nutzbar, vertan bleibt.

Um so verlockender Mannheimers Appell, sich der strukturellen Prognosen anzunehmen und dagegen anzugehen, noch bevor die darin sich abzeichnenden Katastrophen sich in unserer Wirklichkeit realisiert haben. So etwa die lange schon vorauszusehende Flüchtlingskrise im Zuge vielfach ineinander verzahnter Machtfaktoren und Ausbeutungsverhältnisse. Einst infolge des Kolonialismus, indessen des global herrschenden Turbokapitalismus, um nur ein Beispiel zu nennen, was in seinem strukturell sich abzeichnenden unheilvollen Potenzial uns bekanntermaßen noch lange in Schach halten wird, ohne dass von politischer Seite effizient dagegengehalten würde.  

 Doch Wertheimer geht, entgegen den düsteren Erfahrungswerten bisheriger Warnungen in Literaturen, davon aus, dass wir uns dieses hoch zu schätzende Potenzial nutzbar machen, und insofern „Glückliche Cassandras“ auf dem Plan rufen könnten.

 

Am Ende lautet das so herausfordernde wie zugleich Hoffnung stiftende Fazit: „[N]iemand anderer als wir selbst sind die Akteure unseres >Schicksals<.“Leseprobe

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

Archiv

Sachbuchtipp des Monats Januar 2022

 

© Hartmut Fanger

Psychische Erkrankung? Ganz normal!

 

Sonja Koppitz: „Spinnst du?“, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021

 

Noch immer gilt es als Tabu, über psychische Erkrankungen zu sprechen. Im Mittelalter wurden Betroffene als vom Teufel Besessene betrachtet, was nicht selten zu Folter und Hexenverbrennung führte – vor noch gar nicht so langer Zeit unter dem euphemistischen Begriff Euthanasie während des Nationalsozialismus gar zur Ermordung. Heute werden an psychischer Erkrankung Leidende oftmals noch immer stigmatisiert. Der Gang zum Psychiater erweist sich nicht selten als Weg, von dem man nicht gerne spricht.

 

Die aus Rundfunk und Fernsehen bekannte Journalistin Sonja Koppitz möchte mit ihrem neuesten Buch „Spinnst du?“ zu einem anderen Bild psychisch Kranker in der Gesellschaft beitragen, zu einer Veränderung in Wahrnehmung und Wertschätzung. Nicht umsonst heißt es im Untertitel „Warum psychische Erkrankungen ganz normal sind“. Hemmungen, Hilfe anzunehmen, sollen abgebaut werden. Zugleich stellt sich im Gegenzug die Frage, wie krank eigentlich unsere Gesellschaft selbst sein mag. Wer kennt nicht die Begriffe ADHS, Angst-, Ess- oder Zwangsstörungen, Autismus, Burnout, Borderline oder Schizophrenie. Von der Volkskrankheit Depression ganz zu schweigen. Auf über 350 Seiten verschafft Koppitz einen Überblick über die Vielfalt der Verbreitung psychischer Störungen, zeigt Lösungswege auf und verweist darüber hinaus auf Möglichkeiten für Angehörige, psychisch Kranken zu begegnen.

 

Dabei spricht sie aus eigener Erfahrung. Vom Tod der Mutter mit einhergehender Depression, einem Aufenthalt in der Psychiatrie und der Herausforderung, überhaupt einen Therapieplatz zu bekommen. Letzteres scheint allein schon insofern ein phänomenales Defizit, als laut Koppitz ‚die Anzahl der in Deutschland ambulant tätigen Psychotherapeut:innen in den vergangenen Jahren stark angestiegen ist und etwa 24000 bei den gesetzlichen Krankenkassen zugelassen sind’ und dementsprechend abrechnen können. Dennoch sind die Wartezeiten für Hilfesuchenden enorm und es kommt oft erst zur Behandlung, wenn die entsprechenden Symptome bereits am Abklingen sind. Was das für Betroffene in der Zwischenzeit zu bedeuten hat, liegt auf der Hand: Hier sind „Antrieb, Durchhaltevermögen und Mut“ gefragt, alles Ressourcen, woran es gerade den geschwächten Betroffenen mangelt.

Alles in allem eine spannende populärwissenschaftliche Auseinandersetzung, gründlich recherchiert und bei allem Ernst der Sachlage nicht ohne Humor geschrieben, aufgearbeitet mit Literaturangaben, Stichwortregister und Fußnoten. Lesenswert nicht zuletzt, weil neben fachspezifischen Literaturangaben eine Fülle literarischer Beispiele angeführt werden, wie zum Beispiel von Johann Wolfgang Goethe, Martin Walser, Hermann Hesse, Siri Hustvedt, Artur Schopenhauer und vielen mehr.  Allenfalls wären noch die Väter jener kritischen Haltung, wie die Begründer der Antipsychiatriebewegung in den 70ern, Ronald D. Laing und Michel Foucault, erwähnenswert gewesen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag!        
Archiv

Sachbuchtipp des Monats Dezember 2021

© Hartmut Fanger:  Dokumentation einer ungewöhnlichen Freundschaft 

Barack Obama & Bruce Springsteen: Renegades Born in the USA. Träume • Mythen • Musik - aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner und Henriette Zeltner-Shane, Penguin Verlag, München 2021

 

Ein Geschenk zweier außergewöhnlicher Persönlichkeiten, nicht nur für Fans. Barack Obama und Bruce Springsteen. Zwei Freunde, die viel zu erzählen haben und deren Gespräche in dem gleichnamigen Podcast aus dem Jahr 2021 die Grundlage für das vorliegende Werk bilden. Dabei ist nicht nur viel über die Gemeinsamkeiten der so unterschiedlichen Lebensläufe beider Autoren, sondern auch reichlich über gesellschaftspolitische Hintergründe zu erfahren, etwas über Amerika und die Amerikaner selbst.

 Ein attraktiver Band mit tollen Fotos auf 315 großformatigen Seiten – lehrreich, politisch, aktuell und brisant, kultig und faszinierend. Ein Werk, in dem man allein von der Optik her immer wieder gern blättert, sich dazu verführen lässt, sich die eine oder andere CD von Bruce Springsteen anzuhören, dessen wichtigste Texte in dem Band handgeschrieben enthalten sind. So etwa The Promised Land, My Hometown oder Born in the USA. Herausragend die Dokumentation der „veranstaltungsreihein performance at the white house“, wo mit zahlreichen Fotos der jeweils dort auftretenden Künstler und einer genauen Auflistung der Konzerte ein farbiges Bild von dem reichen Kulturleben in dem politisch wohl mächtigsten Haus der Welt vermittelt wird. Neben Obama und seiner Familie und Bruce Springsteen sind u.a. Paul McCartney, Kris Kristofferson, James Taylor, Mick Jagger und Joan Baez zu sehen.

 Brisant nicht zuletzt jene Textstellen, wo sich beide Autoren zur aktuellen politischen Lage in den USA und der Welt äußern, es um Rassismus, Ungerechtigkeit und Nachlässigkeit der Trump-Regierung im Umgang mit der Pandemie geht, was millionenfache Todesopfer forderte. So beginnt das Werk auch gleich mit einem Statement Obamas über all das, was ihn seit 2020 bis heute aufgerüttelt hat. Die Ermordung George Floyds, die hohe Arbeitslosigkeit, der gewalttätige Angriff auf das Kapitol. Doch auch die Ernennung Joe Bidens zum Präsidenten der Vereinigten Staaten spielt eine Rolle. Und er berichtet davon, wie er Zeuge von wachsender Wut und Spaltung in den USA wurde und sich die Frage stellt, wie es möglich wäre, „den Weg zurück zu einer stärker einigenden amerikanischen Geschichte“ zu finden. Eine komplexe Thematik, die, wie zu erahnen, gleich auf mehreren Ebenen durchdekliniert wird, wenn Barack Obama und Bruce Springsteen neben den bereits erwähnten Themen wie Freundschaft und Rassismus sich außerdem über Finanzfragen, Musik, Machismo, starke Frauen und Familie austauschen.

 Alles in allem ein ungemein lesenswertes Buch zweier außergewöhnlicher Autoren, das uns deren gesellschaftliche Bedeutung, vor allem aber ihre Menschlichkeit nahebringt – nicht zuletzt ein großartiges Weihnachtsgeschenk!

 Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Sachbuchtipp des Monats Dezember 2021

 

© Hartmut Fanger:  Lichtstrahl in dunkler Zeit

Bernd Brunner: „Das Buch der Nacht“

Galiani Verlag, Berlin 2021

Ein so stimmungsvolles wie ästhetisch ansprechendes Buch. Bereits das von Anne Blanke und Pauline Schröers attraktiv gestaltete Cover verbreitet mit Glitzeroptik auf dunkelblauem Leinen-Grund Zauber. Wie geschaffen zum Trost für die wohl dunkelste Zeit des Jahres. Der Autor Bernd Brunner wiederum bringt uns in seinem Werk dann nahe, wie u.a. Dichter und Schriftsteller, Philosophen und Gelehrte die Nacht erleben und wie facettenreich sie ihre nächtlichen Gefühle zum Ausdruck bringen. Wie Nacht poetisch zu stimulieren vermag, erfahren wir zum Beispiel von Ovid bis Goethe, von Novalis bis Hemingway, von Nietzsche, Marcel Proust, Rilke, Sophie von la Roche, Schopenhauer, Henry David Thoreau, Stefan Zweig und vielen, vielen mehr. Dabei spart Brunner nicht mit Anekdoten, humorvollen Begebenheiten und wissenswerten Details. Von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang. Und es ist einfach spannend, von der ‚Nacht im alten Rom’ zu erfahren, von ‚nächtlichen Verwandlungen’ oder „Nachtgestalten“, oder  dass beispielsweise ‚Dunkelheit Stimmungslagen verstärkt’, manch sogenannte ‚Kopfarbeiter sich in den dunklen Stunden ganz bewusst zurückziehen’, gerade dann ‚besonders kreativ werden, weil sie in dieser Zeit weniger von Lärm gestört und abgelenkt werden und sich besser konzentrieren können.’ Nicht umsonst bezeichnet der kubanische Schriftsteller José Marti die Nacht als „die fördernde Freundin der Poesie.“ Für Brunner Zeit, das Licht von Geschichten zu beschwören‚ von Aufbruch in die Zukunft zu schreiben, von etwas, das sich zeigen, das entstehen und gestaltet werden will. Vielleicht auch deshalb, weil der nächste Tag sozusagen vor der Tür steht. Am dunkelsten ist die Nacht vor der Dämmerung“, wusste laut Brunner schon der US-amerikanische Comic-Held Batman. Und die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison äußerte sich einmal dahin gehend, ,dass es noch unbedingt dunkel sein muss, wenn sie aufsteht und sich eine Tasse Kaffee zubereitet, um, während sie noch trinkt, zu beobachten, wie das Licht kommt’. Zeit, sich, frei nach Rose Ausländer, ‚ins Herz der Zukunft zu träumen’. Denn wozu ‚dienen die Tage’, so die Frage der Filmregisseurin, Musikerin und Performance-Künstlerin Laurie Anderson, nämlich ‚um uns aufzuwecken’ und ‚die endlosen Nächte zu unterbrechen’. Ihr ‚dienen’ diese Nächte ferner dazu, ‚um durch Zeit in eine andere Welt zu fallen’.

 Auch „Das Buch der Nacht“ sollte unter keinem Weihnachtsbaum fehlen.

 Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Galiani Verlag!

Sachbuchtipp des Monats Dezember 2021

 

© Erna R. Fanger  

 

Meret Oppenheims Kosmos surrealer Welten

 

Grandiose Werkschau in Zeiten der Pandemie

 

„Meret Oppenheim. Mon exposition“, herausgegeben von Nina Zimmer, Kunstmuseum Bern; Natalie Dupêcher, The Menil Collection, Houston; Anne Umland, The Museum of Modern Art, New York, mit Lee Colón und Nora Lohner. Hirmer Verlag GmbH, München 2021, www.hirmerverlag.de, www.kunstmuseum.ch

 

Bei „Meret Oppenheim. Mon exposition“ handelt es sich um die erste, groß angelegte transatlantische Retrospektive, die sich nicht zuletzt der engen Zusammenarbeit zwischen Kunstmuseum Bern,  The Menil Collection, Houston, und The Museum of Modern Art, New York, verdankt. Der Ausstellungstitel wiederum verweist auf eines der letzten Projekte der 1985 im Alter von 72 Jahren verstorbenen Künstlerin, einer imaginierten Retrospektive Ihres Lebenswerks in ihrer Wahlheimat Bern mit einer Auswahl von über 200 Arbeiten, eigens dafür in Miniaturansicht gezeichnet. Oppenheim verfügte, dass nach ihrem Tod dem Kunstmuseum Bern, das heute über den größten Anteil ihrer Werke verfügt, ein Drittel ihrer Arbeiten überlassen würde. Es bildet daher mit Die Kunst der Retrospektive. Meret Oppenheims Zeichnungen einer „Imaginären Ausstellung“, 1983, den dritten Schwerpunk und Abschluss dieses Bands, eröffnet mit The Menil Collection unter dem Motto „Endlich Freiheit!“ Das Schaffen Meret Oppenheims von 1932 bis 1954, gefolgt von den Sammlungen des Museum of Modern Art mit Schwerpunkt Surrealismus unter dem Titel MERET OPPENHEIM ALS ZEITGENÖSSISCHE KÜNSTLERIN. FÜNF NAHAUFNAHMEN AUS DEN JAHREN 1966 bis 1982.

 

Dass Oppenheims Werk mit diesem opulenten Bildband, ästhetisch ansprechend, kunstwissenschaftlich fundiert und in herausragender Bildqualität aufwändig gestaltet, gerade jetzt, im Zuge der Pandemie, einem größeren Publikum zugeführt wird, ist für viele Kunstfreunde, die es derzeit nicht riskieren wollen, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, ein ausgesprochener Glücksfall. Aber das ist nur ein Grund. Ausschlaggebend scheint vielmehr die Sprengkraft von Oppenheims visionärer Kreativität, originell, voll Witz und eine innere Freiheit und Souveränität atmend, die den Horizont weitet und neue Perspektiven in den Blick nimmt. Inspiration, die in Zeiten umfassenden Wandels neue Sichtweisen erschließen kann. Keiner weiß derzeit, wohin die Reise geht. Und mühsam nach Orientierung ringend, bedarf es jetzt mutiger Schritte heraus aus dem Dilemma, in das wir als Menschheit geraten sind, und nicht zuletzt der inneren und äußeren Freiheit, sich über Grenzen hinwegzusetzen. Diese muss man sich laut Oppenheim „nehmen, sie wird einem nicht gegeben.“ Lassen Sie sich mitreißen von diesem großartigen Band und der imaginären Kraft der Fantasie Meret Oppenheims – verschenken Sie ihn zu Weihnachten!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hirmer Verlag, München

 

Sachbuchtipp des Monats Dezember 2021

© Erna R. Fanger  

Das Rückenschmerzbuch: empathisch, humorvoll – Der Hit

Moni Port, Philip Waechter:

Sie müssen den Schmerz wegatmen. Das Rückenschmerztrostbuch, Kein & Aber Verlag, Zürich 2021

Gerade die schreibende Zunft, aber auch all die vielen anderen Sitz-Berufe, sind damit vertraut. An den Rechner gebunden, verliert man die Zeit aus dem Auge. Sitzt fest. Irgendwann ist es so weit. Der Rücken verdirbt uns die Tour und streikt. Schuldbewusst beginnen wir mit längst fälligen Übungen. Doch nichts hilft. Die Familie, ratlos, unterstützt, wo sie kann. Der Orthopäde wird zu Rate gezogen – der Muskel sei’s. Wärmekompressionen helfen. Physio steht an: Viel trinken hilft. Die Bandscheibe sei wie ein Schwamm. Der Osteopath sieht’s anders. Es ist der Nerv, und der braucht Kühlung. Wärme auf Muskel ade. Und das ist nur der Anfang der Odyssee, die den Schmerzgeplagten bevorsteht. Von Orthopäde zu Orthopäde geht’s. Desgleichen wechseln Physiotherapeuten wie Osteopathen. Und jeder hat eine andere Heilmethode im Fokus. Und natürlich bleibt der Rat Leid geprüfter Freund:innen nicht aus, die uns jede Menge alternativer Methoden empfehlen. Von veganer Ernährung bis zu Fleisch, ja, aber nicht von Säugetieren. Und unbedingt Kurkuma nehmen, hilft gegen Entzündungen. Von auf keinen Fall operieren bis bloß die OP nicht zu lange aufschieben, das schädigt die Nerven, von einfach mehr Sex, Entgiften löst alles, bis zu den Tücken des Schmerzgedächtnisses – könnte auch alles nur Einbildung sein, reicht die Palette.

Dann will man es endlich wissen. Die Buchhandlung wird gestürmt. Ein ganzer Stapel Neuerscheinungen, nach Hause geschleppt, wird studiert. Doch auch hier – überbordende Vielfalt. Und jede Methode verspricht uns Erlösung. Freunde wenden sich ab. Überraschung: Neue Freunde stellen sich ein, greifen uns liebevoll unter die Arme. Der Weg der Heilung hat begonnen. Irgendwann hat jeder gefunden, dessen er bedurfte, und mit einem Mal ist der Spuk vorbei. Unsere Mühe hat sich gelohnt. Wir radeln wieder und kaufen uns Blumen für den Balkon. Ein kleines, von Philip Waechter hinreißend illustriertes Buch, mit heiteren Texten liebevoll untermalt von Moni Port – die weitaus beste Therapie!

Aber lesen und schauen Sie selbst, viel Vergnügen!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Kein & Aber Verlag, Zürich 2021!

Buchtipp des Monats November 2021

© Erna R. Fanger  

 

Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

 

Franz Kafka

 

Von der Wahrheit, die ist

 

Hanne Ørstavik: ti amo, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2021; aus dem Skandinavischen ins Deutsche übertragen von Andreas Donat.

 

Von der Wahrheit, die ist, und der Liebe, die ist, handelt dieses Buch. Vom Leben, das Schreibende mit jeder Zeile zu erkunden aufgerufen sind. Denn Schreiben heißt, sich in einer gegenläufigen Bewegung all der Vielschichtigkeit und Ambivalenzen anzunehmen, die die Wahrheit eines jeden ausmachen und unter den Anforderungen des Alltags bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind.

 

Erzählt wird die autofiktionale Geschichte der Ich-Erzählerin von der Liebe ihres Lebens, deretwegen sie ihre skandinavische Heimat verlassen hat und zu ihrem Mann, einem Mailänder Verleger, gezogen ist. Die beiden sind unzertrennlich und glücklich in Zweisamkeit. Doch kaum ein paar Jahre verheiratet, erkrankt er unheilbar. Fortan wird die Ich-Erzählerin nicht nur Zeugin des allmählichen Entschwindens des über alles Geliebten, sondern auch gewahr, dass sie unterschiedliche Wahrheiten leben. Denn während sie als Schriftstellerin immer dem Grundsatz der eigenen Wahrhaftigkeit treu zu bleiben sich auferlegt hat, stellt ihr sterbender Mann sie vor die Tatsache, dass er sich weigert, die Möglichkeit des eignen Todes in Augenschein zu nehmen, und beteuert, stets bei ihr zu sein, was immer geschehe. Und was sich nach außen hin einzig als Katastrophe ausnimmt, erweist sich schließlich aus der Innenschau als Transformationsprozess, in dem sich die Ich-Erzählerin, mal verzweifelt, dann wieder mit zärtlicher Beharrlichkeit der Begleitung ihres Mannes mit all der ihr zu Gebote stehenden Lebenskraft widmet. Akribisch erkundet sie dabei die gemeinsame Wegstrecke nach entsprechenden Indizien – alles hänge mit allem zusammen. Dabei stößt sie auf den im Zuge der Verlagsübernahme auf der Strecke gebliebenen Wunsch ihres Mannes, Maler zu werden, den wieder aufzunehmen ihm nicht mehr gelingen sollte. Aber auch eine gewisse Zurückhaltung beim Sex fügt sich mit einem Mal ins Bild, wie sich überhaupt im Zuge der Krankheit das gegenseitige Begehren auf Fürsorge und eine unabdingbare, teils verzweifelte Zärtlichkeit fokussiert. Und während vermeintliche Gewissheiten, die dem Leben seinen scheinbaren Halt geben, zusehends zu zerbröseln drohen, gleitet das Paar zwischen Hoffen und Bangen, Zusammenbrüchen, Arztbesuchen und regem kulturellem Leben in stetiger gegenseitiger Beteuerung ihrer Liebe – ti amo – auf den bevorstehenden Tod des einen zu. Im gesamten Diskurs der Liebenden fällt kein Name, sondern ist stets von einem Ich und einem Du die Rede, bis A. ins Spiel kommt. Mit A. wiederum bricht mitten hinein in das ergreifende Finale eine andere Liebe, einer Liebe, die nicht sein darf und dafür umso heftiger entbrennt. Auf einer viertägigen Lesereise in Mexiko von dem sie begleitenden Host in Empfang genommen, wird die Protagonistin schlagartig dessen so mitreißender wie zwingender Vitalität und Lebenskraft gewahr. Die wenigen Stunden zwischen zahlreichen Terminen, die den beiden bleiben, haben etwas unwirklich Entrücktes, der Zeitlichkeit Enthobenes, Magisches, flüchtig zugleich und von leuchtender Intensität. Den Brief, den ihr A. zum Abschied übergibt, kündigt sie gleich an, nicht zu beantworten. Sie wird zurückkehren zu ihrem Mann, wird bei ihm bleiben, ihm beistehen. Und auch wenn der Abstand zu ihm bei ihrer Rückkehr durch diese Begegnung ein anderer ist, ändert dies doch nichts daran, dass sie ihm unverbrüchlich zugewandt bleibt, den Weg bis zum Ende mit ihm geht. Wie auch dieser sein Versprechen hält, präsent ist, über seinen Tod hinaus. Neben Thanatos bricht sich desgleichen Eros unerbittlich Bahn, ohne dass es jedoch zwischen A. und der Ich-Erzählerin zu einer intimen Begegnung käme.

 

Sprachlich so präzise wie in zärtlichem Tenor, dabei stets die Diskretion wahrend, prallen hier unerhörte Wahrheiten aufeinander, überlagern sich und verschmelzen schließlich zu einer heterogenen Einheit, ohne dass dabei die Würde eines der dabei Beteiligten angetastet würde. Es ist das ergreifende Bekenntnis der Ich-Erzählerin, sich radikal zur Wahrhaftigkeit zu verpflichten, ohne was ihr hier zustößt zu bewerten. Dabei wird nichts von der emotionalen Wucht, die diese Lektüre birgt, benannt, als sie vielmehr die dafür durchlässige Leser:in trifft. Und wenn das eingangs zitierte Kafka-Wort auf ein Buch zutrifft, dann auf Hanne Ørstaviks ti amo.

 

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2021

 

Sachbuchtipp  Juni - Juli  2021

© Hartmut Fanger                                        Gegen die "Handvergessenheit“

Jochen Hörisch: Hände                Eine Kulturgeschichte                                      Hanser Verlag. München 2021

Der Fuß erscheint uns als Extremität spätestens seit Neil Armstrongs erstem Schritt auf dem Mond näher zu sein als die Hand. Für Jochen Hörisch gewiss ein Beleg für seine These der „Handvergessenheit“ unserer Zeit. Und dies, obwohl die Hand gerade in der schreibenden Zunft tagtäglich das Gegenteil beweist. Wobei der Autor allerdings schon auf den ersten Seiten seines Werkes verdeutlicht, dass die Hand des Schreibenden im Zuge von Digitalisierung und Computerisierung lediglich die Tastatur betätigt, die Handschrift als solche hingegen den Rückzug angetreten hat. Ausgesprochen spannend liest sich dementsprechend, wie sich die Aufgaben unserer Hand im Laufe der Zeit verändert haben, ihr zunächst immer feinere, differenziertere Fingerfertigkeit abverlangt wurde, wie sie sich dann wiederum von den Praktiken des industriellen Zeitalters fortbewegt hat und heute nur mehr Knöpfe anstelle von Hebeln bedient.

 

Und ausgerechnet im Fußball erfährt die Hand eine besondere Bedeutung. Von dem regelkonform mit der Hand getätigten Einwurf bis hin zu dem mit der Hand gehaltenen Ball des Torwarts. Hier darf natürlich das wohl bemerkenswerteste Beispiel nicht fehlen, das der Autor dann auch gleich zu Beginn ins Spiel bringt: Die berühmte ‚Hand Gottes’ des Argentiniers Maradona, mit der der wohl einst populärste Fußballer seiner Zeit während der Weltmeisterschaft 1986 ein gegen alle Regeln anerkanntes Tor zum Nachteil der Nationalmannschaft Englands erzielte. 

 

Was der Hand dann im Hinblick auf Literatur und Philosophie an Bedeutung zukommt, erfahren wir spätestens in dem Moment, wo Hörisch auf den Roman „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ des inzwischen Literaturnobelpreisträgers Peter Handke eingeht und womit der Sport Einzug in die Weltliteratur gefunden hat. 

 

Schwerpunkt bildet jedoch die Zeit der Klassik. Dabei hat es Hörisch, wie so oft in seinen Werken, insbesondere Goethe angetan. Inwieweit dieser auch dem Leser im 21. Jahrhundert etwas  zu sagen hat‚ begründet er damit, dass dessen ‚poetische Handreflexionen Lebenskunstlehre umkreisen‘ und damit die Frage aufwerfen, ob wir im digitalen Zeitalter ‚unser Leben in der Hand haben und gestalten können oder wir in der Hand transsubjektiver Mächte wie [besagter] Hand Gottes oder der invisible hand des Marktes sind’. Das Literaturverzeichnis weist dementsprechend dann auch zahlreiche Bände des Dichterfürsten auf. Von Götz von Berlichingen bis hin zu Faust, von den Leiden des jungen Werther bis hin zu Torquato Tasso, vom Westöstlichen Divan zu Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren sowie Dichtung und Wahrheit. Überraschend in diesem Zusammenhang vor allem Goethes Zeichnungen, die dessen ‚Faszination der Hand’ zum Ausdruck bringen und Goethe sich in seinen Handstudien auch fern der Dichtung als Meister erweist. In diesem Kontext fehlen dann Dürers „Betende Hände“ ebenso wenig wie M.C. Eschers gleichwohl berühmte „Drawing Hands“. 

 

Doch Jochen Hörisch istt nicht nur ein vorzüglicher Goethekenner, sondern vermag auch komplizierte Zusammenhänge gut nachvollziehbar vor Augen zu führen. So erhellt er in diesem 531 Seiten umfassenden Buch, inklusive großem Anmerkungsapparat mit Stichwortregister und zahlreichen Abbildungen, fast nebenbei ein ganzes Stück Kulturgeschichte. Wir erfahren etwa, wie das Handmotiv von Martin Luther bis Paul McCartney und Joan Baez, vom 15. bis zum 20. Jahrhundert Einzug in die Literatur gehalten hat – geistreich, pointiert und Erkenntnis gewinnend. 

 

Aber auch das Werk von Autorengrößen wie Matthias Claudius, Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal wird im Zuge der Recherche nach dem Handmotiv durchforstet. Ebenso wenig kommt, wie erwähnt, die Philosophie nicht zu kurz. So landen wir schon bald bei Hegels Phänomenologie des Geistes,Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsichtund Nietzsches Morgenröteund seiner Fröhlichen Wissenschaft. 

 

Ein Muss für alle, die mehr über die Bedeutung der Hand in soziokultureller, historischer  wie ökonomischer, künstlerischer und nicht zuletzt weltreligiöser Hinsicht erfahren wollen! 

 

Last but noch least anlässlich des Todes am 4. Juni 2021 der Großmeisterin in Sachen poetischen Schreibens, Friedericke Mayröcker: ‚Hand aufs Herz‘ – wer weiß schon, dass diese ihren langjährigen Liebes- und Lebenspartner Ernst Jandl als „Herz- und Handgefährten“ beschrieben hat.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl! 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag!

 

                                                                                                     Archiv  

Sachbuchtipp Mai - Juni  2021

   © Erna R. Fanger

   Wollüstige Wanderungen durch 

   Literaturen

 

Michael Maar: "Die Schlange im Wolfspelz*. Das Geheimnis großer Literatur, Rowohlt Verlag, Hamburg  2021 

Mit diesem „Schmöker“ der gehobenen Art ist dem Literaturwissenschaftler, Autor und Literaturkritiker Michael Maar ein großer Wurf gelungen. Was dieses Buch wiederum zum Bestseller macht und warum die Buchwelt es mit frenetischem Beifall aufgenommen hat, verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass Maar nicht nur ein leidenschaftlicher Leser, sondern überdies besessen ist von der Frage, was guten Stil beim Schreiben ausmacht. Als Student von Literaturtheorie eher gelangweilt, hat ihn diese Frage schon immer umgetrieben. Der Aufforderung eines Freunds, „Schreibe doch mal einen Essay über Stil“, nachkommend, hat sich dieser nun zu einem veritablen Werk mit 50 Schriftstellerporträts auf 655 Seiten ausgewachsen. Dabei folgt Maar keinem Kanon. Vielmehr geht er, Liebhaber der Literatur und großer Bewunderer der Könnerschaft auf diesem Gebiet, seinen innerhalb von 40 Jahren gewachsenen eigenen Vorlieben nach. Und zwar ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, weshalb z. B. Grass und Böll, beide bekanntlich Nobelpreisträger, fehlen. Dafür ist er offen und neugierig genug, wenn jemand ihm Knefs „Geschenkten Gaul“ empfiehlt, dem auch nachzukommen, um zu dem Schluss zu gelangen: „Das ist ja unerhört, wie die schreibt. Das ist ja so farbig und plastisch und voller Berliner Witz, detailreich und vergnüglich.“** Dafür, fügt er hinzu, lege er sogar Christa Wolf beiseiteDas muss man sich trauen. Wie auch guter Stil damit zu tun hat, etwas zu wagen. Nämlich seine ganz eigene Sicht auf die Welt und die Dinge zu werfen. Und zwar gerade dann, wenn sie abweicht vom Mainstream, weil man tiefer blickt und weiter, der Blick unverstellt und ohne Scheuklappen. So wie das Kind im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ eben die Wahrheit ausspricht, die keiner auch nur ‚wahrzunehmen‘ sich traut, nämlich dass der Kaiser ja gar nichts anhabe, nackt sei. 

Doch damit ist es natürlich nicht getan. Und wir bekommen auch kein Rezept an die Hand, welche Zutaten einen guten Stil ausmachen. Nicht umsonst spricht Maar vom „Geheimnis großer Literatur“. Allenfalls lassen sich gewisse Richtlinien ableiten. So zum Beispiel, dass gutem Stil stets gründliches Denken vorausgeht, dass man Einfälle haben muss. Oder dass Form und Inhalt nicht voneinander zu trennen sind, vielmehr sich vermitteln müssen. Ebenso wie Klangfarbe, Sprachmelodie und Rhythmus eine Rolle spielen. Komplizierte Dinge wiederum, einfach ausgedrückt, ist gutem Stil in der Regel zuträglicher als jegliches Übermaß. Nicht zu vergessen, der von Maar ausgewiesene „Verbotskanon“, den jeder Schriftsteller pflegen sollte, sprich Vermeidung von Floskeln, Allgemeinplätzen. Kurz das allzu Geläufige, Abgegriffene, ist es, was gutem Stil abgeht. 

Doch wenden wir uns im Zuge des Streifzugs durch Maars Bibliothek exemplarisch einigen konkreten Art ‚Fall-Beispielen‘ zu, anhand derer er uns nahebringt, was deren Stil auszeichnet. Und er tut dies in derart vergnüglicher Manier, was ein im weitesten Sinne erotisches Verhältnis zur Literatur nahelegt. Dabei argumentiert er mal mit ausgelassener, nie bissiger Ironie, mal mit nachsichtigem Humor, aber doch stets als Liebhaber.  Und immer belegt er sein stilistisches Urteil anhand konkreter Textbeispiele, kleineren und größeren Auszügen aus dem Werk seiner Lieblinge – vorne an Johann Peter Hebel , Thomas Mann, Kafka. Goethe, ein Gott, obschon fehlbarer Gott, wobei er auf den in seinen Augen stilistisch weniger glücklichen Beginn der „Wahlverwandtschaften“ verweist.

Zugleich rückt Maar einiges zurecht oder vielmehr ‚auf seinen rechten Platz‘. Zum Beispiel den hohen literarischen Rang, der Rahel Varnhagen eigentlich gebührt, oder auch Marie Ebner-Eschenbach, die 1900 in Wien als erste Frau die Doktorwürde erlangte und deren lebensnaher, ungeschminkter Naturalismus einen ebenso schaudern lässt wie ihre blitzende Ironie inspiriert.

Ergreifend und von Empathie geprägt sein Nietzsche-Porträt. In Maars Augen ein großer Stilist, bei dem Stil und Moral zusammenfallen, zumal in seinem mittleren Werk. Doch während Nietzsche als Moralist alles geißelt, wo er deutschen Untertanengeist wittert, falsche Ehrfurcht vor höfischer Welt oder vor Amtsstuben und Kanzleien, lastet Maar ihm dies weniger an, zumal in Hinblick auf seine von geistiger Umnachtung geprägte letzte Schaffensphase bis zu seinem Tod: „Der arme, ärmste Hund, immerzu krank, immerzu in Schmerzen, am Ende fast blind, mit Dauermigräne und erotisch ein Hungerleider, immer am Rande des Freitods, in größter Vereinsamung an etwas herumnagend …“LeseprobeSelten in der Disziplin der Literaturwissenschaft, aber auch im Literaturbetrieb, vernimmt man ein von solchem Einfühlungsvermögen getragenes Statement.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

*Metapher, aus der Feder Eva Menasses stammend

*DLF Lesart, 1.12.20, Michael Maar über „Die Schlange im Wolfspelz“. Was aus Worten gute Literatur macht. Moderation: Joachim Scholl

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag, Hamburg                                                                                              Archiv 

Sachbuchtipp Februar 2021

©Hartmut Fanger 

Lösungsorientiert und Mut machend

 

Robert Habeck: Von hier an anders. Eine politische Skizze,Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021

Mit „Von hier an anders“ beweist Robert Habeck auf 377 Seiten nicht nur philosophischen wie politischen Scharfsinn, sondern zugleich, dass er als Schriftsteller über einen sensiblen Umgang mit Sprache verfügt. Ein so aktuelles wie brisantes, zugleich in all seiner Differenziertheit gut lesbares Buch. 

Dabei skizziert der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen ein so umfassendes wie facettenreiches Bild deutscher Wirklichkeit in Zeiten der Pandemie mit all den Widersprüchen in puncto sozialer, ökonomischer und kultureller Entwicklungen. Dass dabei der europäische wie weltpolitiische Gedanke einen nicht geringen Stellenwert einnimmt, versteht sich von selbst. 

Angesichts der Diversität, die sich im Zuge der Moderne bis ins 21. Jahrhundert immer stärker ausdifferenziert hat, dient ihm der nostalgisch anmutende Paternoster zugleich als Metapher und Erklärungsprinzip, wodurch die inhärente Komplexität veranschaulicht und dementsprechend nachvollziehbar vor Augen geführt werden kann. Demnach scheint das eine immer zugleich ein diametral entgegengesetztes anderes nach sich zu ziehen. Ist der eine erfolgreich, kann der andere als Verlierer dastehen, ebenso wie der Fortschritt des einen für den anderen Rückschritt bedeuten mag. Mit Auf- und Abstieg verhält es sich demnach nicht anders. Nach Habeck ein Paradoxon, wonach jede politische Aktion zum Gegenteil von dem führen kann, was ursprünglich beabsichtigt war. Fakt, das in vielen Fällen zugleich sozio-ökonomische Ungerechtigkeiten nach sich zieht. Ein wesentlicher Punkt, der der nach Habeck ‚zunehmenden Zerrissenheit der Gesellschaft, ihrer Gereiztheit’ Vorschub leisten dürfte und die es zu überwinden gilt. Hinzu käme zweifellos das ‚Gefühl von kultureller Ungerechtigkeit’.  Habeck zählt diesbezüglich ‚Kinder- und Altersarmut, ein Leben am Existenzminimum, eine nicht auskömmliche Rente trotz lebenslanger Arbeit’ auf, die ein gehöriges Maß an Würdelosigkeit beinhalten. Wesentliches  Konfliktpotenzial, für das die Politik dringend angehalten ist, Lösungen zu finden, bilden Missstände dieser Art doch reichlich Stoff für rechten Populismus. Phänomene solcher Art wiederum zu reflektieren und darum zu ringen, sie zu bewältigen, könnte zu einem Meilenstein bei der Etablierung neuer Wege in Politik und Gesellschaft avancieren. 

Die Pandemie hat die Missstände nur noch verschärft. Es bedarf nach Habeck schon deshalb einer neuen Kultur der Gemeinsamkeit. ‚Es müssen Wege gefunden werden, Unversöhnlichkeit und Polarisierung nicht weiter zu befeuern’, was für nahezu alle Bereiche gilt. Ökologie und Umweltschutz in der Landwirtschaft, Klimapolitik und Erderwärmung,  Aufnahme von Flüchtlingen, Migrationspolitik und Fachkräftemangel, Inklusion von Randgruppen und Gleichberechtigung, Bedrohung demokratischer Strukturen durch extreme Kräfte von rechts, um nur die wesentlichen Punkte hier aufzugreifen. 

Doch wie können all die Gegensätze, politischen Ungereimtheiten und Widersprüche letztendlich überwunden werden.  In der Opposition  wäre dies für Habeck und Bündnis90/Die Grünen gewiss nicht so einfach möglich. Dementsprechend folgt am Schluss entgegen einstiger Vorbehalte grüner Politik die Formulierung eines Machtanspruchs: „Neue Zeiten brauchen neue Macht“, so die Überschrift des letzten Kapitels. Die ‚gesellschaftliche Spaltung wie in den USA oder Großbritannien könnte zum Beispiel verhindert werden, indem verstärkt aus der Mitte heraus politische Verantwortung übernommen würde’. 

Robert Habeck beendet sein Buch „am Morgen der US-amerikanischen Wahlnacht 2020“, wo noch nicht klar ist, wer der nächste Präsident der Vereinigten Staaten sein wird.  Indessen wissen wir, dass Biden das Rennen gemacht hat. Ein Politiker, der die Spaltung der USA überwinden will und muss. Dies wiederum korrespondiert mit jener Frage, die Habeck seinem Buch vorangestellt – und die einst Barack Obama am letzten Tag seiner Amtsausübung als Präsident gegenüber seinen Demokraten aufgeworfen hat: Worin haben sich die Demokraten im Hinblick auf die Überwindung von Gräben in der Gesellschaft geirrt. Und genau darum geht es, übertragen auf deutsche Verhältnisse, vor allem in diesem Buch: Gräben überwinden, Gemeinsamkeit fördern.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                             

Sachbuchtipp Dezember 2020 - Januar 2021

© Hartmut Fanger;

„Besonders freue ich mich auf den Elefanten“ Von Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens bis hin zur Faszination der Schädel von Dickhäutern.

 

Oliver Matuschek: „Goethes Elefanten“, Insel Verlag, Berlin 2020

Wie von der Insel-Bücherei nicht anders gewohnt, ist auch der 1489. Band ästhetisch ansprechend. Kenntnisreich, dabei so eloquent wie anschaulich geschrieben, liegt er überdies gut in der Hand, so dass man ihn kaum weglegen mag. Hinzu kommen die zahlreichen, teils farbigen Abbildungen, bestehend aus Skizzen von Goethe und Bildern seiner Zeitgenossen. 

Der freie Schriftsteller und Kurator Oliver Matuschek führt uns auf 107 Seiten inklusive eines umfangreichen Quellenverzeichnisses, Angaben über weiterführende Literatur und Bildnachweise zurück in die Zeit der Aufklärung. In eine Zeit, wo Forschung und Erkenntnisdrang vorherrschten, sich über Tierschutz hingegen keiner Gedanken machte. Erstaunlich dabei mag sein, dass der schon einst mit dem „Götz von Berlichingen“ als Theater- und mit den „Leiden des jungen Werther“ als Romanautor berühmte Goethe sich 1784 auch auf dem naturwissenschaftlichen Gebiet der Anatomie bewährt hatte. Den zentralen Punkt des Buches bildet dementsprechend seine Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens, was den Menschen als solchen in seiner Entwicklung in die Nähe der Tierwelt verweist und damit einer wissenschaftlichen Sensation gleichkam. Galt bis dahin doch der Gedanke, dass sich der Mensch vom Tier, insbesondere vom Affen, neben allen anderen Belangen auch von der Anatomie her unterschiede. Eine Annahme, die zum Streit zwischen Johann Wolfgang Goethe mit etablierten Wissenschaftlern, insbesondere dem Anatom Samuel Thomas Soemmerring, führte, der von dieser Meinung nicht so leicht abzubringen war. Heute gilt Goethes Forschungsergebnis allerdings als erwiesen. Der vom Erfolg beflügelte Ehrgeiz bewegte diesen dann auch zu weiteren Forschungen. Dabei galt sein Interesse der bis dahin wenig bekannten Spezies der Elefanten. Goethes Lehrer Johann Caspar Lavater bezeichnete dessen ‚natürlichen Ausdruck’ in seinen ‚Physiognomischen-Fragmenten’ bereits 1776 als ein Zeichen von ‚Gedächtnis, Verstand, Klugheit, Kraft und – Delikatesse’. Nicht zuletzt beeindruckte dessen riesenhafter Schädel. Unter welch katastrophalen Umständen wiederum u.a. Elefanten und Nilpferde nach Europa und quer durch Deutschland manövriert wurden, beschreibt Matuschek eindringlich. Ebenso das Sezieren von gerade verstorbenen Menschen und Elefanten, was nicht nur aus heutiger Sicht gruselig erscheinen mag. So, wenn es zum Beispiel in einem Brief aus dem Jahre 1781 von Goethe an Herzog Carl August heißt „Zwey Unglückliche waren uns eben zum Glück gestorben, die wir dann auch ziemlich abgeschält und ihnen von dem sündigen Fleische geholfen haben“ oder der oben bereits erwähnte Samuel Thomas Soemmerring ungerührt im Detail davon berichtet, wie er bei großer Hitze einen durch einen Unfall verstorbenen Elefanten seziert. 

Auch in der Sammlung diverser Schädel seitens Lavaters fand sich ein solcher Elefantenschädel, was im Hinblick auf Tierschutz oder gar Respekt vor unseren Mitgeschöpfen wiederum für sich spricht. Es ist der nüchterne, ja kalt anmutende naturwissenschaftliche Blick eines Universalgelehrten, der akribisch seine anatomischen Kenntnisse vor Augen führt, der heutige Zeitgenossen irritieren mag. Und es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht von ungefähr, wenn sich Goethe bereits im hohen Alter 1826 Schillers Schädel zu Untersuchungszwecken bringen lässt. 

So unterhaltsam wie lesenswert bietet diese Lektüre einen detaillierter Beitrag zu einer erweiterten Sichtweise Goethes und dessen naturwissenschaftliche Arbeiten.

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Hartmut Fanger

www.schreibfertig.com

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Insel Verlag, Berlin!

Sachbuchtipp des Monats Oktober - Dezember 2020

©  Hartmut Fanger 

"Ecclesia semper reformanda“– Kirche heißt stets veränderung

 

Julian Sengelmann: „GLAUBE JA, KIRCHE NEIN? WARUM SICH KIRCHE VERÄNDERN MUSS“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, April 2020

Ein nicht nur für Kirchenkreise streitbares Buch, das sich aufgrund seiner brisanten Thesen gewiss für manche im ersten Moment als schmerzhaft erweist. So etwa, wenn es heißt, dass man alte Gewohnheiten aufgeben, sich vieles verändern, Kirchen gar schließen müssten. Doch der Autor, evangelischer Pastor, Moderator, Schauspieler, Sänger und Songwriter Julian Sengelmann, versteht es, dem Leser auf 284 Seiten inklusive Anmerkungen ein lebendiges Bild zu vermitteln, wie Kirche neu zu denken wäre. Und er tut dies eloquent, angereichert mit anschaulichen Beispielen, sodass wir ihm gerne folgen. Dabei überzeugt er mit so scharfsinnigen wie differenzierten Argumenten und nicht selten, obschon wohlwollenden, Provokationen:Wir kommen nicht umhin, Veränderung ist unabdingbar. 

Und dies nicht nur angesichts stark sinkender Mitgliederzahlen – Studien besagen, dass sie sich bis 2060 halbieren werden. Und nur drei Prozent der Mitglieder besuchen sonntags einen evangelischen Gottesdienst. „Die Kirche muss sich also verändern, weil sie nie im luftleeren Raum existiert. Sie ist (...) im Kontext von Welt, Menschen, Gesellschaft, Politik, Lebensentwürfen, Sehnsüchten, Zeitgeist und vielen anderen Faktoren zu verstehen.“ 

Und es sind exakt jene ‚drei kleinen Worte’, „ecclesia semper reformanda“,anhand derer der Autor deutlich macht, warum Kirche nicht an herkömmlichen Strukturen, Gewohnheiten und Ritualen festhalten kann und darf. Drei Worte, die Kirche grundlegend mit Veränderung in Verbindung bringen, wie es sich bereits Martin Luther im Zuge der Reformation auf die Fahnen geschrieben hat. Veränderung, nicht zuletzt auch notwendig, um einer auf vielen Ebenen sich rasant wandelnden Wirklichkeit sowie den daraus resultierenden neuen Aufgaben und Pflichten gerecht zu werden. Dabei besteht laut Sengelmann vor allem die Notwendigkeit des Verzichts auf Exklusivität im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich Andersdenkende auszuschließen, sie abzuweisen. Vielmehr ist das Gebot der Stunde, den Menschen in ihrem Alltag wieder näherzukommen. 

Doch wie gelangen wir zu Lösungen? Zunächst einmal gilt es in einer Art Introspektion, den Gründen nachzugehen, warum derzeit so viele aus der Kirche austreten. Dabei liegt es schon fast auf der Hand, wenn vielfach konstatiert wird, dass Kirche mit ihrer klerikalen Sprache und den teils festgefahrenen Ritualen der eigenen Lebenswirklichkeit fern sei, man überdies mit einem Gott, wie in biblischen Geschichten und Mythologien vermittelt, heute nichts mehr anzufangen wisse, dies eher befremde. 

Wie das anders gehen kann, zeigt Sengelmann u.a. anhand von Beispielen aus eigener Praxis auf. Etwa bei Hochzeiten oder Trauergottesdiensten, wo traditionelle Riten mit dem Leben des Menschen verknüpft werden. Dabei kommt die ‚Schönheit eines klassischen Gottesdiensts’ ebenso zum Tragen wie die Trauerfeier für einen Menschen im kleinen Kreis mit Liedern von Reinhard Mey und „Imagine“ von John Lennon sowie dem ‚Lesen eines fiktiven Briefes der gerade geborenen Tochter an die Oma’, der zugleich Kern der Predigt darstellt. Berührende Zeremonien, die im Grunde jeden Gottesdienst zu einer facettenreichen, lebendigen Begegnung werden lassen können. „Let’s make Gottesdienst great again“, lautet dementsprechend ein Kapitel in dem lesenswerten Buch, das mit der ambivalenten, nichtsdestotrotz Hoffnung stiftenden „Erkenntnis des Tages“ endet: „Ich mag Kirche – häufig. Manchmal sehr und hin und wieder Aspekte daran überhaupt nicht. Aber es lohnt sich, sie am Leben zu halten.“ 

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt-Taschenbuch Verlag, Hamburg!                                                   Archiv

 

Sachbuchtipp des Monats August 2020

Unbekannter Vogelkosmos

Walter A. Sontag: „Das wilde Leben der Vögel. Von Nachtschwärmern, Kuckuckskindern und leidenschaftlichen Sängern“. Verlag C.H. Beck, München 2020.

Dieses Buch des in Wien lebenden und für seine Studien weitgereisten Ornithologen Walter A. Sontag steckt voll überraschender Erkenntnisse über das Sozialleben der Vogelwelt. Weit vielfältiger und individueller, so die jüngere Forschung, sind unsere gefiederten Mitgeschöpfe angelegt, als wir dies je vermutet hätten.

Und es geht Sontag dabei in erster Linie nicht um eine Bestandsaufnahme der gegenwärtig auf der Erde lebenden etwa zehntausend Vogelarten: 

Spatz und Strauß, Kolibri und Kondor, Pinguin und Albatros: Sie alle haben Platz im Angebot der Lebensräume von den polaren Eiswüsten bis zu den üppigen Tropenwäldern, von der Hochsee bis in höchste Gebirgszonen, von den fernsten Inseln bis in die urbanen Ballungsräume und Metropolen. Leseprobe

Vielmehr liegt ihm daran, die erstaunliche Mannigfaltigkeit des Zusammenlebens, der Lebensentwürfe und Charaktermerkmale einzelner Vertreter einer bestimmten Spezies aufzuzeigen. Dabei stützt er sich auf Erkenntnisse des Schweizer Zoologen Heini Hediger (1908-1992), der sich in seiner Forschung erstmals eingehender Variabilität und Persönlichkeit in der Tierwelt gewidmet hat. Ebenso wie beim Menschen sind die einzelnen Vogelarten, je nach Alter, Geschlecht und zufälligen äußeren Einflüssen, verschieden. So gibt es etwa unter Blaumeisen Früh- und Spätaufsteher, ja sogar Nachteulen. Die unscheinbaren Heckenbraunellen wiederum leben ganz ohne nennenswerten Beziehungsclinch monogam, in fester eheähnlicher Paarbeziehung, ebenso wie polygam, mit Vielweiberei, Vielmännerei, oder in Art Mischehen mit mal mehr Männchen, mal mehr Weibchen. Entsprechend unterschiedlich regelt sich die Sorge um Nachwuchs und Aufzucht. Verglichen mit den dahingegen starren Beziehungsgepflogenheiten des Menschen, bemerkenswert. Diese Fülle an alternativen Lebensentwürfen steht dann auch in krassem Gegensatz zur bislang dominierenden Rede vom ‚arttypischen Verhalten‘.

Wir erfahren überdies, wie sinnliche Wahrnehmung bei Vögeln funktioniert, nämlich hauptsächlich über das Auge, visuell. Wobei ihr Sehsinn, fein getaktet, dem Menschen durchaus überlegen ist. So nimmt etwa der Trauerschnäpper pro Sekunde eine Folge von 146 Sehreizen wahr, bei der Blaumeise sind es 131. Dies ermöglicht es ihnen, einen Feind blitzschnell auszumachen. Aber auch der Geruchssinn oder die Fähigkeit magnetischer Wahrnehmung, die bei Zugvögeln zum Tragen kommt, sind entscheidend. 

Nicht zuletzt stellt sich die Frage, mit welchen Herausforderungen die Vogelwelt sich angesichts zunehmend dezimierter Lebensräume konfrontiert sieht. Welcher Bewältigungsstrategien bedienen sie sich. Und was für eine Rolle nimmt in dieser nicht unerheblichen Gemengelage der Mensch ein. Wie sollte er sich dazu verhalten. Womit wir das Kapitel „Die Vogelwelt im Anthropozän“ streifen, das drastisch auf die Bedrohung und bereits stattfindende weltweite Vernichtung der Vogelfauna durch den Menschen hinweist. Gefolgt von dem Abschnitt „Was können wir für Vögel tun?“, wo wir von mancher Erfolgsgeschichte erfahren, wo Naturschützer sich mit Hingabe, teils unter äußersten Mühen und großem Aufwand, gefährdeter Vogelarten annehmen. Auch die Rolle der Tiergärten hat sich indessen dahingehend gewandelt, dass sie Letzteren Schutzraum bieten und so für deren Fortbestand sorgen.

Last but not least ist „Das wilde Leben der Vögel“ eine mitreißende Liebeserklärung an die schier unglaubliche Vielfalt und Schönheit der Vogelwelt, die mit der ihr eigenen Fähigkeit zu fliegen und somit der Schwerkraft zu trotzen, zugleich als Symbol für Freiheit gilt. Unüberhörbar dabei der Appell, dieses Geschenk der Schöpfung an die Menschheit nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag C.H. Beck!

Sachbuchtipp des Monats Juni 2020

© Hartmut Fanger 

Reportagen best of ...

Margrit Sprecher: „Irrland“, Reportagen, Dörlemann  Verlag, Zürich 2020 

Nicht umsonst gilt Margrit Sprecher als „Königin der Reportage“ und kein Geringerer als Ferdinand von Schirach ist es, der ihre Arbeit aufgrund der ihr eigenen „Klarheit ... Wahrhaftigkeit und vor allem tiefen Menschlichkeit“  wertschätzt.  

Der nun vorliegende Band mit zwanzig Reportagen aus den Jahren 2002 bis 2020 dokumentiert die ganze Könnerschaft der Schweizer Journalistin. Jede Reportage ein Musterbeispiel für mitreißendes Erzählen. Ein Erzählen, das sich jedoch im Gegensatz zur Belletristik ganz der Reportage verpflichtet weiß, entsprechend nichts Erfundenes enthält. In jedem dieser Texte ist die Reporterin vor Ort zu spüren, ganz nah an der Materie, um nicht im wahrsten Sinne des Wortes zu sagen am Mann. Denn es geht hier vor allem um mächtige Männer. Männer, die aufgrund ihrer Autorität und ihres Einflusses im Laufe der Jahre bei Margrit Sprecher in den Fokus gerieten. Dabei bleiben Superlative, wie sich schnell herausstellt, nicht aus. Sei es, wenn von dem inzwischen achtzigjährigen Theo Müller die Rede ist, für dessen berühmt gewordene ‚Müller-Milch’ ‚mehr als eine halbe Million Kühe täglich gemolken werden’, oder vom Zukunftsforscher Matthias Horx, der bis zu 100 Vorträge im Jahr hält und an seinen sogenannten ‚Zukunftstagen bis zu 4000 Teilnehmer vorweisen kann, die bis zu 1400 Euro zahlen’, um von ihm eine Zukunftsprognose zu erhalten. Irrtum nicht ausgeschlossen. 

Und es verdankt sich der Sprachkraft der Autorin, ihrer Genauigkeit in der Beobachtung, und das alles nicht selten gewürzt mit feiner Ironie, dass die Lektüre ganz einfach Spaß macht. Zumal die Beiträge von tiefem Ernst ebenso wie ausgesprochen heiter sind. So werden etwa politische Zusammenhänge transparent, wenn in „Ein Gefängnis namens Gaza“ der Kampf um Palästina oder das ‚Warten von 3517 Menschen in Amerikas Todestrakten auf ihre Hinrichtung’ geschildert wird. Ungemein plastisch gelingt es ihr, die mächtigen Männer mit ihren großen und kleinen Schwächen vor Augen zu führen. So den gefürchteten Sammelkläger Ed Fagan, der als Anwalt im Zuge eines Unglücks ‚nicht nur die ‚Todesart’ der Angehörigen seiner Klienten, ‚sondern in seinen Forderungen „auch die Dauer der Todesangst in Dollar ummünzen“ lassen will und dies auch kann.  Oder der Sterbehelfer Ludwig A. Minelli, der seinen Opfern empfiehlt, sich gegen 11 Uhr am Sterbeort einzufinden, womit allen gedient sei, vom Sterbehelfer bis zur  obligatorisch anrückenden Polizei. 

Alles in allem stellen die Reportagen Sprechers ein hervorragendes Zeitdokument dar, was sich bereits in dem im besten Sinne irritierenden Titel „Irrland“ andeuten mag. Wobei es, wie in einem Interview im Deutschlandfunk vom 26. Mai 2020 verlaubart, nicht um „Irland“ geht – obwohl es darüber ebenfalls eine Reportage gibt –, sondern die Erfahrung einer ‚irren Welt’ als Ganzes  gemeint ist. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Dörlemann Verlag, Zürich 2020

Sachbuchtipp des Monats Juni 2020

© Erna R. Fanger

Die Welt digital neu erfinden

 

Das eigentliche Problem der Menschheit ist: 

Wir haben Gefühle aus der Steinzeit, Institutionen aus dem Mittelalter und eine Gott gleiche Technologie.  

E.O. Wilson*

Georg Diez, Emanuel Heisenberg: 

„Power to the People“. Verlag Hanser Berlin 2020.

Wie können wir mit Technologie die Welt neu erfinden. Diese Frage stellen sich in einem eindringlichen Dialog der Journalist und Buchautor Georg Diez, heute Direktor für Strategien und Medien in einem unabhängigen Forschungsinstitut, und Emanuel Heisenberg, Gründer des Technologie-Start-ups ecoworks, das CO2-neutrale Lösungen für Industriebetriebe entwickelt; er berät die Bundesregierung und NGOs. Und befürchten wir nicht zu Unrecht im Zuge zunehmender Digitalisierung – Stichwort China – die lückenlose staatliche Überwachung, setzen Diez und Heisenberg auf eine digital-demokratische Revolution, ausgehend von der Bürgerbewegung. Wobei sie von einem grundlegend optimistischen Menschenbild ausgehen. Nicht zuletzt mit Blick etwa auf die Flüchtlingskrise 2015, wobei sie die tatkräftigen Hilfsaktionen, von Bürgern in Selbstorganisation auf die Beine gestellt, als Zeichen gelingender Demokratie werten. Aber auch die Fridays-for-Future-Bewegung stehe für diesen Ansatz. Mit ihren Forderungen sind deren Vertreter sehr viel entschiedener und klarer als etwa die Generation ihrer Eltern. Und auch wenn sie keine Lösung parat haben, so doch eine Richtung, basierend auf der Gewissheit, dass es so, wie es bislang politisch gehandhabt wurde, verkehrt gelaufen ist. Und das ist ein wesentlicher Punkt für Diez und Heisenberg. Es kann nicht darum gehen, für komplexe Problemstellungen, wie sie seit Corona auf so vielen miteinander verzahnten Gebieten verschärft zutage treten, schnelle Antworten parat zu haben. Vielmehr liegt ihnen daran, in einer von engagierten Bürgern getragenen, kontinuierlichen demokratischen Praxis gemeinsam um Lösungen zu ringen, das sei die Lösung. Und es stellt sich ihnen im Zuge dessen zugleich die Frage, wie die schwerfällige repräsentative Demokratie in eine lebendige Demokratie mit Bürgernähe und Bürgerbeteiligung zu überführen wäre, ohne dass dies seitens populistischer Wortführer instrumentalisiert und einen Rechtsruck provozieren würde. Wobei unsere politischen Systeme weltweit ohnehin schon vor Corona auf dem Prüfstand stehen. Insofern betrachten Diez und Heisenberg die Krise als Chance, jetzt um- und Europa neu zu denken. 

 

Zur Transformation komplexer politischer Systeme wiederum – nehmen wir etwa die Infrastruktur großer Städte – bedarf es enormer Datenmengen, die mithilfe digitaler Mittel gesteuert werden könnten. Desgleichen Belange, um die derzeit heftig gerungen wird, wie Identität und Gruppenzugehörigkeit, Autonomie, Teilhabe und Mitbestimmung, Inklusion ... Dabei gehen Diez und Heisenberg hier weniger von nationalen Belangen aus, als sie vielmehr lokale Initiativen mit Perspektive auf globale Zusammenhänge im Blick haben.

Paradebeispiel hierfür ist Barcelona, wo im Zuge innovativer Datenpolitik Lösungsansätze für die Steuerung etwa von Gentrifizierungsprozessen oder Klimawandel entwickelt werden konnten, um nur einige exemplarisch zu nennen. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme digitaler Prozesse im Öffentlichen Raum wurde zunächst einmal konstatiert, dass monopolistische Plattformen wie Google und Co. den digitalen Raum beherrschen und dabei satte Gewinne einstreichen. Die Grundlage dieser Monopole, allesamt privatwirtschaftlich organisiert, sind wiederum Daten, und zwar Daten von Bürgern. Nach dem Verständnis von Diez und Heisenberg einer progressiven Politik zeichne sich diese dadurch aus, dass sie die Hoheit über besagte Daten eben nicht Google und Co. überlässt, sondern für sich beansprucht. Wobei Datenmonopolisten längst insofern im realen Raum angekommen sind, als sie sich insbesondere auf die Städte konzentrieren, wo innerhalb von Sekunden riesige Mengen an Daten von erheblicher Relevanz produziert werden. Grundlage eines solch neuen Politikverständnisses ist demnach „die Einsicht, dass eine lebendige Demokratie und eine innovative und gerechte Wirtschaft im digitalen Zeitalter darauf beruhen, wer die Kontrolle über die Daten hat.“ 

Diese Daten gilt es zurückzuerobern und uns selbst zu eigen zu machen, was monopolistische Plattformen längst propagiert und für sich vereinnahmt haben, nämlich „Städte durch Innovationen neu zu erschaffen.“ Zentrales Anliegen muss die Teilhabe sein, schließlich sind es die Bürger*innen, die die Stadt ausmachen. Daten gehören allen und müssen frei zugänglich sein. Barcelona hat es vorgemacht.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

* US-amerikanischer Insektenforscher und Biologe, bekannt für seine Beiträge zu Evolutions- und Soziobiologie

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Hanser Berlin!

Sachbuchtipp des Monats April 2020

© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com:

Ein Muss für jeden, der schreibt

Peter-André Alt: „Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten“,Verlag C.H. Beck oHG, München 2020

Bereits von Hemingway in „Paris, ein Fest fürs Leben“ wissen wir, wie schwer es sein kann, den ersten ‚wahren Satz’ zu finden. Peter-André Alt hat sich nun in seinem neuesten Werk mit wissenschaftlicher Akribie auf die Suche in der Weltliteratur gemacht, hat Romane und Erzählungen durchforstet. Worin liegt die Faszination im ersten Satz, was zieht den Leser gleich zu Beginn in den Bann, sodass er nicht mehr aufhören kann zu lesen. Bei dieser Lektüre von über 260 Seiten stößt er auf eine Schatzkiste, ein Füllhorn schier unendlicher Möglichkeiten. Unter die Lupe genommen werden erste Sätze literarischer Größen von Homer bis zu Handke, von Goethe bis zu García Márquez, von Thomas Mann bis hin zu Martin Walser, um nur einige zu nennen. Allen gemein ist das Außergewöhnliche, das, was aufhorchen lässt. Sei es, wenn ein Roman etwa mit dem ‚Steckbrief einer Person, mit einem plötzlichen Ereignis, Bekenntnissen, Sprechakten, Gerüchten oder mit etwas ganz und gar Unwahrscheinlichem’ beginnt. 

Am Ende ist es die Spannung, die von einem ersten Satz ausgehen muss. Denn, so Peter-André Alt: „Literatur lebt davon, dass sie Erwartungen weckt“, und „[g]erade erste Sätze müssen die Kunst der Andeutung entfalten“. Als Beispiel hierzu wird u.a. Arthur Conan Doyles berühmter Sherlock-Holmes-Roman „Das leere Haus“ angeführt, worin laut Alt der ‚Eröffnungssatz alles enthält, was die Erwartung des Lesers anheizt’: „Im Frühling des Jahres 1894 war das gesamte London neugierig und die Oberschicht der ganzen Welt bestürzt über den Mord am ehrenwerten Ronald Adair, der unter den ungewöhnlichsten und rätselhaftesten Umständen zu Tode kam“. Natürlich möchte der Leser jetzt die Hintergründe in Erfahrung bringen. Wie und warum konnte so eine abscheuliche Tat geschehen. Wer war der Mörder. Wie kann der Fall aufgeklärt werden. Was steckt wirklich hinter dem ungewöhnlichen, rätselhaften Geschehen. 

Ja selbst „Kitsch und Triviales“ kann unsere Neugierde wecken. So, wenn Alt den ersten Satz mit der trivialen Personenbeschreibung einer rätselhaften Frau zur Zeit der Cholera in Hamburg in Georg Bindings Novelle „Der Opfergang“ aus dem Jahre 1912 vor Augen führt. Trivial, nicht mehr, als dass sie ‚schön und verkleidet ist und an der Alster dahinschreitet’, erfahren wir von der Frau. Nichts Besonderes und doch ein Arrangement, das fesselt und den Leser dazu animiert, hinter die Beweggründe der Figur zu kommen. Warum ist sie verkleidetund was lässt sie angesichts der Seuche so friedlich dahinschreiten. 

Unverzichtbar für alle, die schreiben, ist das Werk bestens recherchiert, obendrein gespickt mit jeder Menge Wissenswertem aus der Welt der Literatur, inklusive Anmerkungsapparat und einem Register der zitierten Anfänge . 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Mit Dank für das Rezensionsexemplar an den Verlag C,H. Beck. 

Sachbuchtipp des Monats Dezember 2019

 © Hartmut Fanger

 Wir hätten uns umarmen sollen – Protokoll einer Hassliebe

Volker Weidermann: Das Duell.Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki,Kiepenheuer & Witsch 2019.

Der Autor und sein Kritiker. Akribisch zeichnet der Nachfolger des Literarischen Quartetts und Spiegelredakteur Volker Weidermann  in „Das Duell“ die Geschichte zweier Männer nach, wie sie nicht unterschiedlicher sein könnten – Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Dabei versteht er es, die beiden grundsätzlich differierenden Lebensläufe und Charaktere in ihrem gemeinsamen historischen Kontext so mitreißend wie spannend vor Augen zu führen. Grass, mit 17 bei der Waffen-SS, später Bildender Künstler, Romanautor, Lyriker und Essayist, überdies Verfechter der SPD; Reich-Ranicki mit 20 im Warschauer Ghetto, später Konsul der Republik Polen, danach Lektor, Literaturkritiker der „Zeit“ und Sachbuchautor. „Zwei Boxer in einem Ring“ lautet insofern nicht von ungefähr eine Kapitelüberschrift. ‚Der Ring’ wiederum ist im weiteren Sinn der Literaturbetrieb, verhandelt im Feuilleton, nicht zuletzt aber durchaus auch das im Fernsehen mehr oder weniger regelmäßig ausgestrahlte „Literarische Quartett“ der 80er und 90er Jahre. Von den insgesamt 385 besprochenen Buchtiteln mit Marcel Reich-Ranicki waren insbesondere die herausragend, provokant auch, in denen ein Werk des späteren Literaturnobelpreisträgers Günter Grass besprochen wurde. Von rhetorischer Brillanz, dabei mit spitzer Feder, versäumt er es nie, zunächst die unbestrittenen Qualität seines Kontrahenten hervorzuheben, dann aber unverhohlen zum Schlag seiner nicht selten vernichtenden Kritik auszuholen. Nach „Die Rättin“ für Grass Anlass, buchstäblich die Flucht zu ergreifen und nach Indien aufzubrechen, wo der Bild-, Lyrik- und Prosaband „Zunge zeigen“ entsteht. Aber auch Letzterer findet in den Augen seines Widersachers und auch sonst im Feuilleton keine Gnade. Zusehends avanciert „Das Literarische Quartett“ zum Ereignis, kommt es doch beinahe regelmäßig zum Eklat. Eine regelrechte Schlammschlacht ergießt sich über Grass nach dem vernichtenden Urteil Reich-Ranickis über seinen Roman „Ein weites Feld“. ‚Als langweilig und wertlos’ bezeichnet er ihn und bezichtigt Grass, ‚dass sich darin Tausende von Sätzen über Fontanes Epik befänden – darunter jedoch kein einziger, der originell oder geistreich wäre’. Der Spiegel zeigt in einer Fotomontage auf dem Titelbild Reich-Ranicki, wie er das Buch von Grass zerreißt. Eindrucksvoll dokumentiert seitens Weidermanns. Zugleich ist hiermit die schwierige Beziehung der beiden Kontrahenten sozusagen auf den Punkt gebracht. Wie eng Kritiker und Romanautor schließlich miteinander verbunden sind, veranschaulicht Grass wiederum in einem Vergleich: „Es gibt Ehen, die werden auf keinem Standesamt besiegelt und auch von keinem Scheidungsrichter getrennt. Ich werde ihn nicht los, er wird mich nicht los.“

 In seiner Rede anlässlich der Preisverleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste lässt Grass verlauten, dass Kritiker „ohne Autoren ‚arbeitslose Sozialfälle’“ wären. Wen er damit meint, liegt auf der Hand. Reich-Ranickis Gegenschlag lässt nicht lange auf sich warten. Erst ganz am Ende ihres Lebens bekennen beide „Wir hätten uns umarmen sollen“. Gekommen ist es dazu nicht.

Wiederum ist es das Verdienst Weidermanns, uns mit „Das Duell“ einen intimen Einblick in die Fehden zweier schillernder Persönlichkeiten zu gewähren, die den Literaturbetrieb des Nachkriegsdeutschlands erheblich mitgeprägt haben. Durchweg getragen von Empathie und Detailtreue, nicht zuletzt aber von der Liebe zur Literatur, was das Ganze zu einem großen Lektürevergnügen macht.

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Kiepenheuer & Witsch Literaturverlag, Köln 2019 

Zum Archiv

Sachbuchtipp des Monats November 2019

 © Erna R. Fanger 

Unvoreingenommen scheitern 

Frank Witzel: Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019

Als Vorbild Witzels diente hier Journal métaphysiquedes französischen, christlich-existenzialistischen Philosophen Gabriel Marcel (1889-1973). Dabei lag Witzel im Zuge einer Krise daran, statt fiktiv zu schreiben, in einer Art Tagebuch der Chronologie seiner Gedanken zu folgen, diese zu beobachten und zu dokumentieren. Und das über einen begrenzten Zeitraum von zwei Monaten. Fokussiert auf den Prozess seines eigenen Denkens, meandert er so durch Assoziationen und Gedankenketten, ohne zurückzublättern, hinterher zu überarbeiten, wie er es vom fiktiven Schreiben her kennt. Stattdessen verfolgt er besagtes Vorhaben akribisch im Wechsel mit regelmäßigem Schwimmen. Denn das Denken hört beim Schwimmen nicht auf.

Was auf den ersten Blick lapidar erscheinen könnte, erweist sich im Zuge der Lektüre als geistiges Abenteuer, das der Leser auf knapp 300 Seiten in kleinen Abschnitten – teils lediglich Gedankensplitter und Aphorismen, teils längere Überlegungen – gebannt verfolgt. Nicht zuletzt mag es die Skepsis des Autors sein, der hier, dem buddhistischen Grundsatz „Glaube nicht alles, was du denkst“ folgend, sein eigenes Denken, die implizit damit einhergehenden Bewertungsmuster, immer wieder radikal infrage stellt. Hinzu kommen die reichhaltigen Referenzen an Philosophie, Geistes- und Religionsgeschichte. Etwa in Auseinandersetzung mit den Schriften Simone Weils oder Søren Kierkegaards, Ludwig Wittgensteins oder Roland Barthes‘. Aber auch der Bibel oder dem Buddhismus weiß er sich verpflichtet. Ebenso wie überdies verschiedene Literaturen hier miteinfließen. Allesamt Weg weisende Parameter, die der Leser dieses Buches, wenn nicht selbst rezipiert, so doch nicht selten gestreift hat, was nicht zuletzt den Reiz der Lektüre ausmacht. Wobei Witzels Denken letzten Endes um all die Lecks und offenen Fragen kreist, die den Menschen seit der mit Aufklärung und Säkularisierung einhergehenden metaphysischen Obdachlosigkeit in Schach halten. Nicht auf Gnade und Barmherzigkeit von höherer Warte mehr darf er von nun an bauen. Vielmehr ist er, mündig, angehalten, selbst Verantwortung zu übernehmen, und scheint damit nicht selten überfordert. Neben der Auseinandersetzung mit Grundthemen wie Glauben, Endlichkeit, Angst, Liebe, Tod, Ethik oder Ästhetik, gilt sein Augenmerk immer wieder der offenbar gescheiterten Beziehung zu einer gewissen O., der einen oder anderen mehr oder weniger flüchtigen Begegnung oder den Sitzungen bei einer Therapeutin.

Zentrale Erkenntnis, die Witzels ‚Metaphysiches Tagebuch‘ in facettenreicher Spiegelung mit besagten Philosophen und religiösen Schriften transportiert, entspricht im Grunde Einsicht und Weisheit des Buchs Kohelet respektive Prediger Salomo der Heiligen Schrift, wo die Vergeblichkeit menschlichen Strebens unterstrichen, der Mensch in seinem grundlegenden existenziellen Scheitern in den Fokus genommen wird. Letzten Endes erweist sich ein jeder als Gefangener seines eigenen Denkens, seiner Glaubenssätze und Verhaltensmuster. Und die Wahrnehmung, erst einmal durchdrungen vom Denkfluss Witzels, unvoreingenommen und zweckfrei, weist dabei über den eigenen Horizont hinaus und entwirft multiperspektivische Sichtweisen, die die Lektüre zu einem ausgesprochenen Gewinn machen. Sprich wir stoßen dabei einerseits auf Grenzen der Wahrnehmung und des Geistes, werden auf uns selbst zurückgeworfen, was andererseits jedoch dazu anhält, besagte Grenzen, denkend oder schreibend, zu überschreiten. Eben darin scheint sich der emanzipatorische Gehalt eines solchen radikal subjektiven Vorgehens zu manifestieren, das dem Autor in seiner unaufgeregten, präzisen Durchdringung der Phänomene nicht zuletzt so etwas wie Glück beschert: „Das tägliche, immer weiter denkendeSchreiben ... hat nach knapp vierzehn Tagen eine beruhigende Wirkung, von der eine beständige Energie ausgeht, sodass ich, kaum zu Hause, weiterschreiben möchte ...“ 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Matthes & Seitz in Berlin

Zum Archiv 

Sachbuchtipp des Monats Oktober 2019

 © Hartmut Fanger: 

Andrea Gerk – Moni Port: „FÜNFZIG DINGE, DIE ERST AB FÜNFZIG SPASS MACHEN“, Kein & Aber Verlag, Zürich Berlin 2019.

Keine Frage, die Zahl 50 ist magisch. Insbesondere dann, wenn von Alter und im weitesten Sinne von Beziehungen die Rede ist. Historische Ereignisse, Jubiläen und runde Geburtstage fallen uns ein. Ebenso Filme wie „Mit fünfzig küssen Männer anders“ von Margarethe von Trotta oder Lieder wie Paul Simons „Fifty ways to leave your lover“. Indessen liegt überdies das heiter und locker formulierte, dabei äußerst unterhaltsame Büchlein „Fünfzig Dinge, die erst ab fünfzig richtig Spaß machen“ von der bekannten Fernsehmoderatorin und Autorin Andrea Gerk vor, hinreißend illustriert von Moni Port. Und es erfüllt nach den ebenso originellen wie sinnreichen Büchern besagter Autorin, wie „Lesen als Medizin“ oder „Lob der schlechten Laune“, einmal mehr unsere Erwartungen. Dabei muss man die Ratschläge für das Leben in der zweiten Hälfte des Daseins nicht unbedingt mit akribischem Ernst befolgen. Vielmehr können sie, an Witz kaum zu überbieten, als Anregung dienen, das Älterwerden in seinem Potenzial an Lebenslust zu erkunden. Und dies nicht ohne Augenzwinkern. Sei es der Vorschlag, ‚eine Playlist für die eigene Beerdigung zusammenzustellen’ oder ‚Rezepte zu kochen, die absurd aufwendig sind’. Von „Ticks und Macken pflegen“, „Das Wetter studieren“  oder „Sich einen Preis fürs eigene Lebenswerk verleihen“ ganz zu schweigen. Dabei schreckt die Autorin auch vor Tabus nicht zurück. So zum Beispiel, wenn es „Mal wieder eine rauchen“ oder „Sich gegen 18 Uhr einen Drink genehmigen“ heißt. Wirklich hilfreich erscheint dagegen, wenn sie uns auffordert ‚Jeden Tag ein Gedicht auswendig oder ein Instrument zu lernen’. Von besonderem Reiz das Kapitel „Alte Liebesbriefe lesen“, worin Goethe, Katherine Mansfield, Daniel Glattauer oder Siegfried Unseld zu Wort kommen. Nicht zuletzt können wir Andrea Gerk nur zustimmen: „Jetzt kommt es nur darauf an, die Gunst der Stunde zu erkennen und das Leben beim Schopfe zu packen.“ Mit diesem so klugen wie pointenreichen kleinen Band zur Seite kann da wirklich nicht viel schief gehen. Und das nicht nur für Generation 50 plus. 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Kein & Aber-Verlag                                                                                        Zum Archiv 

Siehe auch: den Sachbuch Tipp David Wagner: "Sich verlieben hilft"

Sachbuchtipp des Monats August 2019

 © Hartmut Fanger: 

Von der Leidenschaft zu lesen

David Wagner: „Sich verlieben hilft. Über Bücher und Serien“. Verbrecher-Verlag, Berlin 2016.

Manchmal sind es gerade die kleinen, eher unscheinbaren Werke, die einen wahren Schatz in sich bergen und sich für Lesefreunde am Ende als unverzichtbar erweisen. „Sich verlieben hilft“ von David Wagner zählt genau dazu. Sie aufzuspüren scheint angesichts von Massenproduktion an Bestsellern und der schier unendlichen Vielfalt an Publikationen kein leichtes Unterfangen. Die literarische Schatztruhe, klein aber fein, bietet in 15 kurzen Abhandlungen auf 141 Seiten im Format 12 X 17 cm eine mitreißende, Lesesucht erzeugende Lektüre. Keine Frage, der Leser verliebt sich in dies rote Büchlein von der ersten Seite an. Folgt dem Autor, streift mit ihm durch die Leseorte der Welt. Sei es bei einem Tee in der Cafeteria der British Library in London, unweit jenes Zettels mit den berühmten Zeilen von John Lennons „Help“, oder auf einen Felsen am Meer von Elba mit Blick auf die Insel Monte Christo, während Wagner, wie kann es  anders sein, „Der Graf von Monte Christo“ liest. Wagner liest im Übrigen alles, was ihm in die Hände kommt. Ob deutsche Raubkopien als E-Book im Iran oder klassisch gebundene im Haus seiner Tante in Oberösterreich, wo er treffenderweise zu Adalbert Stifters „Die Mappe meines Urgroßvaters“ greift. 

Wie der Titel verrät, handelt es sich um die Liebe zu dem Medium Buch. Dass das Kleinod auch den angesagten US-Serien huldigt, sei an dieser Stelle nicht verschwiegen. Und wer dazu bislang keinen Zugang hatte, wird spätestens jetzt geradezu verführt, selbst in diese Welten einzutauchen und sich dafür begeistern zu lassen. Anfühlen tut sich das, der Titel legt es nahe, wie sich verlieben. Mit all dem dazugehörigen Zauber, der Erregung. Und nicht von ungefähr streift Wagner hier auch Roland Barthes’ erotisches Bekenntnis zur Literatur „Lust am Text“ (1974). Wagners Fazit wiederum: „Ich verliebe mich, jeden Tag, immer wieder. Ich verliebe mich während des Lesens, verliebe mich in Bücher, ihre Helden und Anti-Helden, ihren Text, ihre Sprache, ihre Stimme.“ Gleichermaßen schwärmt er für diejenigen, die all das niedergeschrieben haben, und muss sich fragen, inwieweit dies womöglich der Grund wäre, dass er auch ihre Bücher liebt. 

Doch ebenso wenig lässt er die „leicht schäbige Seite der Schriftstellerei“ außer Acht, „das Sich-Aneignen, das Übernehmen, das Stehlen von Leben, Erfahrungen und Begebenheiten“. Und wahrlich ist so mancher Leser „not amused“, sich als Figur in einem Buch wiederzufinden. 

Wie wiederum dem Leser dieser Rezension nicht entgangen sein dürfte: Das schmale Werk ist eine kleine Perle. Und wir können dem Autor nur dankbar dafür sein. Dankbar aber auch für die nicht geringen Quellenangaben, macht die Lektüre doch unbändig Lust darauf, die vielen hier gestreiften Werke selbst zu erkunden. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verbrecher Verlag 

Sachbuchtipp des Monats April 2019

© Hartmut Fanger

Am farbigen Abglanz haben wir das Leben 

Goethe  

Und Goethe hatte doch Recht!  

Mathias Bröckers: „Newtons Gespenst und Goethes Polaroid. Über die Natur“,  Westend Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2019 

In dem so schmalen wie gehaltvollen Band von Mathias Bröckers wird Goethes Naturbild anhand von Farbenlehre und Forschung detailgenau und auf neuestem Stand vor Augen geführt. Dabei wird zugleich Verständnis für Goethes Polemik gegenüber Newton geweckt. Denn Goethe hatte nach heutigem Wissensstand mit den Ergebnissen seiner Farbenlehre entgegen der Meinung von Zeitgenossen und vielen Naturwissenschaftlern doch Recht. Zumindest bilden die aus dem mechanistischen Weltbild Newtons und Goethes ganzheitlichem Verständnis hervorgehenden Resultate zwei Seiten ein und derselben Medaille ab. Spannend lesen sich die Ausführungen und lassen einmal mehr darauf schließen, dass Goethe seiner Zeit als hellsichtiger Vorreiter der Ökologiebewegung weit voraus gewesen ist. Er sah die Erde zum Beispiel als ‚ein großes lebendiges Wesen an, das im ewigen Ein- und Ausatmen begriffen ist’, wie er hochbetagt 1827 gegenüber Eckermann äußerte. Seine jahrzehntelange akribische Auseinandersetzung mit der Entstehung von Farben dokumentiert dies im ganzheitlichen Sinne so polemisch, dichterisch wie wissenschaftlich. Hingegen sah Goethe in der Forschung von Newton vorgenommenen Teilung der Natur in kleine und kleinste Einheiten nur ‚Halbwahrheit’. „Natur verstummt auf der Folter“ – sein Statement.

Mathias Bröckers begibt sich auf Spurensuche nach Belegen, die aufzeigen, wie aktuell das Goethische Naturverständnis bis ins 21. Jahrhundert hinein ist. Dabei greift er weit zurück bis hin zu dem englischen Arzt und Philosophen Robert Fludd (1574-1637), dessen Schriften Goethe bekannt waren, um kontinuierlich bis hin zum Wissenschaftshistoriker und Publizist Ernst Peter Fischer fortzufahren. Der weist 2018  darauf hin, dass zum Beispiel das Wort „Gen“ von Goethe stammt. Und natürlich zieht Bröckers  hier Verbindungslinien zu Alexander von Humboldt (1769-1859) und seiner Biografin Andrea Wulf („Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ 2016) ). Ebenso zu Darwin (1809-1882), Ernst Haeckel (1834 -1919), Werner Heisenberg (1901-1976)  bis hin zu dem Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli (1939-1958), die allesamt von Goethes Naturforschung und Betrachtungen überzeugt waren. Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle die „Retinex-Theorie des Physikers „Edwin Land (1909-1991), der die Sofortbildfotografie erfand und Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre Polaroid-Kameras in Millionenhöhe verkaufte.  Neil Ribe und Friedrich Steinle wiederum bekräftigten einige Zeit später im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung ihre Überzeugung, dass ‚die Parallelen der Experimente Edwin Lands zu Goethes Theorie der ‚Funktion der Bedeutung des Lichts’ offenkundig seien.  

Alles in allem ein nicht nur für Goethe-Fans lesenswertes Buch, das in Anbetracht der drohenden Klimakatastrophe dringend benötigte neue (alte) Wege aufzeigt und sich als ein weiterer wichtiger Baustein für eine so neue wie alte Sicht auf die Natur erweist.

Schön wäre gewesen, wenn am Schluss des im Übrigen ästhetisch ungemein ansprechenden Bandes Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis integriert worden wären. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem WestendVerlag! 

Sachbuchtipp des Monats März 2019

© Erna R. Fanger

Aufbruch in neue Sphären des Bewusstseins

Psychedelik-Forschung auf dem Vormarsch

 

Michael Pollan: „Verändere dein Bewusstsein. Was uns die neue Psychedelik-Forschung über Sucht, Depression, Todesfurcht und Transzendenz lehrt“aus dem Englischen von Thomas Gunkel.Antje Kunstmann Verlag, München 2019

 

Die Psychedelik-Forschung erobert den Buchmarkt

Es sind gleich zwei Bücher zu Beginn 2019, die uns das Thema der Psychedelik-Forschung nahebringen. Auf der einen Seite „Das Licht“* von dem Romancier T. C. Boyle, auf der anderen „Verändere dein Bewusstsein“ von dem Journalist, Sachbuchautor und Harvard-Professor Michael Pollan. Und wo der Roman 1970 aufhört, nämlich mit dem vorläufigen Ende der LSD-Experimente unter Timothy Leary, der charismatischen Kultfigur der Hippie-Bewegung, beginnt Pollans Aufsehen erregender „Trip“ durch die Psychedelik-Forschung. Von der Entdeckung der Rausch erzeugenden Substanz 1943 seitens des Schweizer Chemikers Albert Hofmann bis zum heutigen Forschungsstand, wo indessen eine 80-prozentige Erfolgsquote – vornehmlich in der Linderung von Todesangst bei Schwerkranken und Sterbenden – zu verzeichnen ist. 

Der in mit dem Thema korrespondierender Optik auf Umschlag und Innenseiten ästhetisch ansprechend ausgestattete an die 500-Seiten-Wälzer liegt schwer der Hand. Verblüffend leicht wiederum liest er sich. Und das nicht, weil hier Abstriche in der differenzierten Darstellung wissenschaftlicher Fakten und Errungenschaften gemacht und Komplexität reduziert würde. Das Gegenteil ist der Fall. Aber hier ist ein Meister seines Fachs am Werk, der sein Handwerk beherrscht. Storytelling at its best, nämlich auf der Basis bestens recherchierter Fakten und eines dezidierten Erkenntnisinteresses. 

 

1. Die Geschichte der psychedelischen Forschung

Drei wesentliche Stationen passieren wir gemeinsam mit Pollan. Erstens, die Geschichte der psychedelischen Forschung, beginnend mit der Entdeckung von LSD und ähnlichen Substanzen und ersten Experimenten bis hin zur Diskreditierung derselben im Zuge von Drogenexzessen der 68er Communitys. Die Wende hin zur Rehabilitierung erfolgt 2006, anlässlich der Feier des 100sten Geburtstags von Albert Hofmann, der sich indessen im Zuge seiner eigenen Erfahrung mit der hoch wirksamen Droge für deren Legalisierung zu Forschungszwecken einsetzt. Damit ist die Renaissance besagter Forschung eingeläutet – sind auf Hofmanns 100sten Feier doch unzählige überzeugte Anhänger zugegen, die fieberhaft daran arbeiten, LSD zu Forschungszwecken wieder zugängig zu machen. In dasselbe Jahr fällt überdies in den USA ein Gerichtsurteil, das religiösen Gemeinschaften nun auch offiziell zugesteht, seit jeher traditionell eingesetzte psychedelische Substanzen in ihren Zeremonien zu verwenden. Damit ist eine weitere Tür aufgestoßen, die schließlich erneut den Weg für die LSD-Forschung geebnet hat.

 

2. Der LSD-Trip in der Psychotherapie – Fallgeschichten

Neben dem Einsatz der Droge bei Schwerkranken und Sterbenden, sind es Suchtkrankheiten und Depressionen, die mit ihnen bekämpft werden können. Wobei Set (die Befindlichkeit des Probanden zur Zeit der Einnahme der Droge) und Setting (Ambiente mit gegebenenfalls Räucherstäbchen, rituellen Gegenständen und Musik sowie einem erfahrenen Begleiter) sorgfältiger Planung bedürfen – die Einnahme zu wissenschaftlichen Zwecken ist stark reglementiert. Zumal es, je nach ‚Gepäck’, das einer mitbringt, leicht zu einem Horrortrip kommen, was wiederum eine Psychose nach sich ziehen kann. Und in Anverwandlung des Hölderlinschen Diktums, ‚Wo die Not am größten, ist das Rettende auch nah’, scheint die Therapie ihre Wirkung am stärksten bei Schwerkranken und Sterbenden zu entfalten, im Gegensatz zur Behandlung von Depressionen und Suchtkrankheiten. Wobei psychedelische Substanzen auf das menschliche Gehirn derart einwirken, dass dabei heftig an unseren Wahrnehmungsmustern ebenso wie unserem Selbstbild gerüttelt wird. Günstigen Falls weicht die Fokussierung auf das eigene Ich zugunsten des Erlebnisses einer kosmischen Einheit und dem Geborgensein in der Allliebe. Ein Zustand, der offenbar nachhaltig Ängste löst und den Probanden einen neuen Zugang zu ihrem eigenen Seelenleben mit mehr Zuversicht und Gelassenheit eröffnet.

 

3. ‚Reiseberichte’ – Selbstversuch des Autors 

Hier erweist sich bereits in der Vorbereitung die verschwörerische Vielfalt der Szene. Wobei es neben der universitären Forschung die der verdeckten Forschung gibt. Man hat aus den 60er Jahren gelernt und kennt die Gefahren, weshalb jeder Versuch mit LSD eines erfahrenen Begleiters bedarf. Ist dies im universitären Bereich bei der Behandlung von Patienten ganz offiziell das Setting, besteht die Schwierigkeit für „Gesunde“, die sich einer solchen Erfahrung unterziehen wollen, darin, hier einen vertrauenswürdigen, kompetenten Begleiter zu finden. Ungemein spannend die Prozedur, über geheime Pfade fündig zu werden. Wobei durchaus eine gewisse Durchlässigkeit zwischen universitärer und verdeckter Forschung besteht. Allein zu dieser Zone vorzudringen, liest sich abenteuerlich. Dabei wartet Pollan –  selbst eher Skeptiker und Materialist mit Bodenhaftung –  in drei ‚Reisen’ mit dem Versuch auf, zur Sprache zu bringen, was sich eigentlich sprachlich nicht fassen lässt, unsere Möglichkeiten zu verbalisieren übersteigt. Und doch gelingt es ihm im Gestus der Unmittelbarkeit und mit einem Höchstmaß an Bemühen um Detailreichtum und Genauigkeit, uns daran teilhaben zu lassen. Wobei hier die Stärke des Autors, den Leser in den Bann zu ziehen, umso mehr zum Tragen kommt. Selbst Atheist, scheint eines nicht zu leugnen zu sein: In diesem Universum ist das eigene Ich nicht das Zentrum, vielmehr erweist es sich offenbar als Teil einer so unermesslichen wie allumfassenden Einheit, deren grundlegend verbindende Substanz Liebe ist. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

*Siehe hierzu auch auf unserer Startseite „Buchtipp des Monats März“ 

Download Sachbuchtipp im Archiv Michael Pollan

unseren aktuellen Buchtipp (BelletristikT.C.Boyle

unseren aktuellen Buchtipp: Elisabeth Borchers

 

Sachbuchtipp des Monats Dezember 2018 - Februar 2019

© Erna R. Fanger:

Politische Sprache auf dem Prüfstand

 

Robert Habeck  "Wer wir sein könnten. Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018

Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden. Emmanuel Lévinas

In diesem jüngst erschienenen Werk geht Grünen-Chef Robert Habeck, zugleich Schriftsteller, dem Zusammenhang zwischen Sprache und Politik nach. Dabei macht er deutlich, dass in der Politik Sprache das eigentliche Handeln ist, und umreißt den Unterschied zwischen totalitärer und offener Sprache. Während Erstere vermeintliche Wahrheiten mit Absolutheitsanspruch behauptet, ringt Letztere um Wahrheit, im Wissen darum, dass es hierbei unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen gibt. Ein Schlüssel liege „in der Reflexion unserer Sprache und in der Kritik unserer politischen Kommunikation“.

Sprache, so Habeck, ist nicht Abbild der Wirklichkeit, bringt sie vielmehr aktiv hervor. Plastisch illustriert er dies anhand des Konzepts der romantischen Liebe, die erst Einzug in die Gesellschaft hielt, nachdem sie in der Literatur Einzug gehalten hatte, wie etwa in Shakespeares „Romeo und Julia“ oder Goethes „Leiden des jungen Werthers“. 

Ebenso konstituiere die zunehmende Verrohung der Sprache Wirklichkeit. Nach stillschweigender Hinnahme der Maßnahmen Merkels, ohne dass dies entsprechende Debatten ausgelöst hätte, seien wir indessen in einer Zeit „politischen Brüllens und Niedermachens“ angelangt. Es würden Kränkungen zugefügt, statt Argumente ins Feld geführt, Beleidigungen avancierten zur probaten Rhetorik. Statt produktiver Streitkultur, bezichtige man sich gegenseitig, werte einander ab. Dabei verhärten sich Fronten, Rechthaberei mache sich breit, statt gemeinsam um Lösungen zu ringen. Aber auch Sprachlosigkeit, dort, wo es notwendig wäre, ein Machtwort zu sprechen, sei ein politisches Problem, „falsches Verständnis für das Gesagte“ verschiebe die Grenze des Sagbaren immer weiter. 

Wenn Sprache politisches Handeln nach sich zieht, welche Sprache bräuchten wir dann. Auf jeden Fall eine Sprache, die Alternativen zulässt, eine Sprache, die offen ist, in der eine Politik der Vielfalt und Verschiedenheit als Reichtum begriffen werde, worum sich zu ringen lohne. Dies ist zugleich eine Sprache, die Abstand vom Entweder-Oder zugunsten eines Sowohl-als-auch oder eines Einerseits-Andererseits-Prinzips nimmt. Ebenso wenig wie etwa der offenbar keinen Widerspruch duldende „Masterplan“, der suggeriert, die Probleme der Flüchtlingspolitik ‚im Griff’ zu haben, die adäquate Antwort auf die mit ihr einhergehenden komplexen Herausforderungen sein kann. Weiter hilft eher, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass es hier keine einfachen Antworten gibt, es vielmehr auf einen Versuch ankomme – was zugleich die Suche impliziert – ins Auge gefasste Lösungen zu erproben. Einer Haltung, dazu angetan, Kreativität freizusetzen und neue Horizonte zu erschließen. 

Überhaupt betont Habeck die Unvollkommenheit in der Politik – „Alle Politik ist Fragment“ –, mit der uns ja auch das Leben schlechthin konfrontiert, als Basis aller Entwicklung. Nichts ist perfekt, alles ist Stückwerk, was uns wiederum anhält, dies als Impuls zu verstehen, weiter daran zu arbeiten, um zu neuen Antworten zu gelangen. Eben dies mache Demokratie aus. Und er misst dabei der Kunst eine entscheidende Rolle zu, nämlich: „Eben nicht nur um zu hinterfragen, sondern um Fragen zu stellen, wo ‚wir’ hinwollen? Wer wir sein könnten.“

Aber auch die bewusste Verkehrung von Bedeutungsebenen zur Verschleierung  von Tatsachen, wie etwa in Orwells 1984 und bis heute immer wieder praktiziert, kommt zur Sprache. Bei Orwell heißt das Kriegsministerium „Ministery of Peace“, die AFD wiederum spreche vom Holocaust-Denkmal als einem „Denkmal der Schande im Herzen der Hauptstadt“. Entgegen vereinbarter Grundannahmen in der Bundesrepublik Deutschland. Zu denken geben muss, dass selbst ein bekanntermaßen eher sozialdemokratisch gesonnenes Medium wie die ZEIT im Tenor von CSU und AFD mit „Illegaler Shuttle-Service“ im Hinblick auf Flucht und Migration titelte. Auch wenn sich hinterher dafür entschuldigt wurde, ist es ein Alarmzeichen, wie sehr sich die politische Mitte nach rechts verschoben hat. Wobei dies nur ein Beispiel solcher „Umwertung aller Werte“ à la Nietzsche darstellt, das er dem Leser vor Augen führt. Ebenso versteht er es im Zuge dieser zugleich differenzierten Analyse politischen Sprechens, den Leser zunehmend zu sensibilisieren. So, wenn er überdies den Aspekt der Verdinglichung ins Feld führt. Etwa in der Rede eines Gauland, man könne sich nicht von der Flüchtlingskrise ‚überrollen lassen’, was in der Definition laut Duden „mit Kampffahrzeugen erobern, bezwingen“ heiße und sich mit der konkreten Notsituation von Geflüchteten allenfalls in zynischer Manier vermittelt: „Mit all diesen Sprachbildern werden Menschen entmenschlicht, entindividualisiert.“ Zugleich entlarvt er sie als „rhetorische Konzepte (...), um die Abhärtung gegen Mitleid voranzutreiben.“

Unmissverständlich daher sein Appell, angesichts der neuen Dimension der Auseinandersetzung zwischen offen völkisch-nationalistischer und liberaler, internationaler Politik, nicht müde zu werden, Erstere im Zweifelsfall als undemokratisch und menschenverachtend zu entlarven. Und zwar gerade in einer Zeit wie dieser, wo es seit der Liberalisierung der Wirtschaft, die die liberale Demokratie auszuhöhlen drohe, um extrem viel geht. „Politik ist der Streit um mögliche Welten.“ Und hier ist jeder gefordert, sich einzumischen, im Gespräch zu bleiben, auch mit dem politischen Gegner. Offen, unvoreingenommen, wach! 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Kiepenheuer & Witsch!

Download Sachbuchtipp im Archiv Robert Habeck

unseren aktuellen Buchtipp (Belletristik) T.C.Boyle

unseren aktuellen Buchtipp:Elisabeth Borchers

Siehe auch unseren  Jüngsten Brigitte Weininger/Julie Witz-Litty 

Sachbuchtipp des Monats 

Sommer 2018 Juni - Juli - August

© Erna R. Fanger

Lust an Erkenntnis zum Zweck befreiender Klarheit     

Wolfram Eilenberger: „Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 - 1929“, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2018

 Wolfram Eilenberger, Jahrgang 1971, einst langjähriger Chefredakteur des „Philosophie Magazins“, heute Zeitkolumnist, Moderator von „Sternstunden der Philosophie“ im Schweizer Fernsehen, Mitglied der Programmleitung der „phil. cologne“, Fußballexperte und Autor lädt mit Ludwig Wittgenstein ein: zum Gebrauch nämlich ‚der natürlichen Sprache des Alltags’, um die Fragen zu erkunden, die wir an das Leben haben. Demnach gibt es keine rein philosophischen Probleme, was Wittgenstein „als das Ergebnis einer Verwirrung“ entlarvt. Dies gelte es, mit Beharrlichkeit und der dazu gebotenen Geduld zu klären und zu heilen, mit Blick auf all die Vielfalt im jeweils gegebenen Kontext. Wobei es darum geht, sich zunächst einmal ‚in Erinnerung zu rufen, wo welche Worte wirklich sinnvoll zu verwenden’ seien: „Philosophieren ist Erinnern zu einem Zweck“, so Ludwig Wittgenstein. Im Übrigen einer der von Eilenberger hier porträtierten Fabulous Four der Philosophiegeschichte, gefolgt von Ernst Cassirer, Martin Heidegger und Walter Benjamin. Das Verbindende bei all der Verschiedenheit der vier ‚Charakterdarsteller’ ihres Fachs sieht Eilenberger wiederum vornehmlich in der Sprache „als die Grundlage der menschlichen Lebensform“. Zugleich beschäftigt sie die Frage der Bedingungen, unter denen es überhaupt möglich sei, ‚uns über eine unmittelbar als sinnvoll erscheinende Welt auszutauschen’. Frage, mit der sie die Weichen in der Philosophie bis heute gestellt haben. So wird Wittgenstein als Mitbegründer der analytischen Philosophie in die Philosophiegeschichte eingehen, deren Anliegen es ist, die als sinnlos sich erwiesen habenden metaphysischen Fragestellungen aus dem philosophischen Diskurs fernzuhalten. Cassirer wiederum legt mit der grundlegenden, dem Menschen unterstellten Zeichenhaftigkeit den Grundstein für die heutigen Kulturwissenschaften. Im Gegenzug sieht Heidegger in der Kultur nicht den Sinn des Daseins, sondern Ablenkung vom ‚Eigentlichen’, nämlich sich als endliches Wesen von seiner grundlegenden Angst zu befreien. Frage, die am Ende in die Philosophie des Existenzialismus mündet. Benjamin schließlich, in seiner genialischen Originalität und seinem Denken in Paradoxien, gilt als Wegbereiter der Frankfurter Schule mit der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos. 

Ergänzt durch über 200 Anmerkungen, Angabe von Quellenmaterial, Personenverzeichnis, jeweiligem Werkregister samt Auswahlbibliographie und Bildnachweis, wird der Leser in acht chronologisch angelegten Kapiteln,  jeweils ein bis zwei Jahre umspannend, und einer Art Epilog unter dem Titel „Endliche“ in besagte Dekade entführt, erlebt diese nicht zuletzt aufgrund Eilenbergers mitreißender Erzählkunst, hautnah mit. 

Genial gleich der Prolog, wo sozusagen ‚das Pferd von hinten aufzäumt wird’ und Eilenberger die Vier jeweils am Ende der Dekade 1919 – 1929 in Erscheinung treten lässt: Ludwig Wittgenstein, Verfasser des als Art Geniestreich gehandelten „Tractatus logico-philosophicus“, zugleich verarmter Milliardärssohn, der aus Überzeugung darauf bestand, auf sein Erbe zu verzichten, um sich als Dorfschullehrer zu verdingen. 1929, indessen völlig mittellos, depressiv, kehrte er nach Cambridge zurück, wo er wie ein Gott empfangen wurde, jedoch weit davon entfernt, für ein Forschungsstipendium die formalen Kriterien zu erfüllen. Und es verdankt sich dem Großmut seiner Gönner, vornehmlich dem Einsatz Bertrand Russels, der sein eigenes beachtliches Werk in Bewunderung des Ausnahmetalents Wittgensteins hintanstellte und sich dafür einsetzte, dass er mittels des Tractatus einen akademischen Titel erlangte. Das Rigorosum geriet offenbar zum Fiasko. Er hingegen beendete es mit dem Statement: „Macht euch nichts draus, ich weiß, ihr werdet es nie verstehen.“ Nun, sein Forschungsstipendium hat man ihm bewilligt.

1929 war auch das Jahr, wo die „Gipfelstürmer“ Martin Heidegger und Ernst Cassirer im Rahmen der renommierten „Davoser Hochschultage“ aufeinandertrafen. Vertreter ihres Fachs, wie sie gegensätzlicher nicht hätten sein können. Als entscheidendes Medium für das Dasein des Menschen hält Heidegger die Sprache. Im Zentrum die Frage, wie der Mensch mit der grundlegenden Angst angesichts seiner Endlichkeit umgehe, angesichts seines Geworfenseins in eine Welt, in der er sich nun herausgefordert sieht, seine Möglichkeiten zu ergreifen. Heidegger, der offenkundige Machtmensch bäuerlicher Herkunft, durch sein epochales Werk „Sein und Zeit“ (1927) wie ein Komet aufgestiegen, zugleich kauzig und provinziell in seinem Auftreten. Als der Jüngere hat er jedoch die Studentenschaft hinter sich. Cassirer dagegen mit seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ – 1929 erscheint der dritte und letzte Band – auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Spross einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie jüdischer Herkunft, beeindruckt er durch seine immense Belesenheit und das nahezu ‚übermenschlich erscheinende Erinnerungsvermögen’. In der akademischen Welt, wo er seit zehn Jahren in Hamburg einen Lehrstuhl innehat, überzeugt er durch kontinuierliches, erfolgreiches Streben. Dem Menschen wesentlich ist laut Cassirer dessen grundlegende Fähigkeit, Zeichen hervorzubringen, „symbolische Formen“  also, worunter er Sprachfähigkeit, etwa auch den Mythos, aber zugleich jedwede künstlerisch-kulturelle Ausdrucksform versteht. Der sogenannte Davoser Disput, den sich die beiden liefern, gilt im Rückblick als Wegscheide der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Richtung weisend bis heute. Und die Frage, „Was ist der Mensch“, zumal nach Entdeckung der Relativitätstheorie, dem Aufkommen Freuds, den Errungenschaften der Technik, die sich im Zuge des Ersten Weltkriegs in ihrer bislang nie gekannten Zerstörungsmacht entfaltet und das Selbstverständnis des Menschen zutiefst erschüttert hat, wird hier neu und umso dringlicher gestellt. In seiner ungemein bildhaften Sprache bringt Eilenberger sie beide in einem treffenden Bild süffisant auf den Punkt: ‚Heidegger die Hütte, Cassirer das Hotel’. Bedeutsam wiederum – gerät Cassirer unter Hitler zum Verfolgten, Heidegger hingegen zum überzeugten Nationalsozialisten.

Plastisch versteht Eilenberger es, den so genialen wie tief in sich zerrissenen, zunehmend isolierten Walter Benjamin nahezubringen, mit seinem „romantischen Hang zum Vorläufigen und Labyrinthischen“, zur Esoterik der jüdischen Kabbala: „Wenn es einen Intellektuellen gibt, in dessen biographischer Situation sich die Spannungen des Zeitalters exemplarisch spiegeln, dann ist es Walter Benjamin im Frühjahr 1929.“ Seinerzeit verkannt, wird Benjamins Beitrag zu den Davoser Hochschulgesprächen, „Der Ursprung des deutschen Trauerspiels“, abgelehnt. Erst seit jüngerer Zeit gilt das Werk, vornehmlich seine „Erkenntnistheoretische Vorrede“, als „Meilenstein der Philosophie und Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts“. Nicht wie Heidegger an der Ausgesetztheit der Todesangst des Menschen sich abarbeitend, und schon gar nicht einen logischen Weltzusammenhang wie Cassirer vor Augen habend, setzt er auf das „Ideal eines den Augenblick feiernden Rausches und Exzesses als Moment der wahren Empfindung.“ Dementsprechend gestaltet sich nicht zuletzt in Benjamins Lebenspraxis auch die Antwort auf die Urfrage „Was ist der Mensch?“ und, daran knüpfend, „Wie soll ich leben?“ Nach erfolgreicher Promotion kann er sich nicht zu einer universitären Laufbahn entschließen, die er, laut Eilenberger zwiegespalten und davon abhängig, wie die Finanzen stehen, ebenso erhofft wie fürchtet. Am Ende optiert er dafür, sich als freier Kritiker zu verdingen. Zu allem hin überwirft er sich mit seinem Vater, der ihm den Geldhahn zudreht. Und obwohl es an Aufträgen nicht mangelt, ist er mit Frau und kleinem Sohn in ständiger finanzieller Not. Über seine Verhältnisse lebend, ist er in teuren Restaurants, Spielkasinos und Freudenhäusern zu Gast. Darüber hinaus sammelt er, einer Manie gleich, Kinderbücher, die er sich aus ganz Europa kommen lässt. Ebenso wie sich seine Zerrissenheit in seinen Denkbildern und theoretischen Annahmen widerspiegelt. Nach seiner ganz eigenen Erkenntnismethode gewinnt er Aufschluss über das Wesen der Dinge und Beziehungen aus dem Randständigen, am Rand der Gesellschaft erweist sich sozusagen ihre Wahrheit, und die Dinge sind ebenso auf sich selbst bezogen wie auf anderes. So haben wir es bei Benjamin mit Denkbildern einer stets in sich ‚widersprüchlichen Gleichzeitigkeit’ und „kontrastreichen, ewig dynamischen Erkenntniskonstellationen“ zu tun. Einer Vielstimmigkeit also, durchaus eher dazu angetan zu überfordern, wer sich darauf einlässt, als unbedingt und ohne weiteres der Wahrheitsfindung dienlich. Allein Benjamin selbst zerbricht an seinen eigenen Voraussetzungen, fängt unzählige hochkarätige Projekte an, die er nicht zu Ende bringt, will sich von seiner Frau wegen der Leidenschaft für eine lettische Theaterregisseurin scheiden lassen, die ihn jedoch vor die Tür gesetzt hat, um schließlich in der Psychiatrie zu landen. Von seinem späteren tragischen Ende, wo er sich unter der Verfolgung der Nazis das Leben nimmt, zu schweigen. 

Nicht zuletzt verdankt sich einmal mehr Eilenbergers markantem, bildhaftem Erzählstil, dass wir bei den großen Philosophen neben ihren Lehren, die sie auf ihre so einzigartige Weise vertreten haben, zugleich die dahinter stehende Persönlichkeit in frappierender Unmittelbarkeit erleben. Ein so mitreißendes wie lehrreiches Lesevergnügen.

Doch lesen Sie selbst. Lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Klett-Cotta-Verlag

 

  Datei zum Herunterladen im Archiv 

Sachbuchtipp Monat Mai 2018 

© Erna R. Fanger: 

Zwischen Kontrollwahn und Kommerz –  Medizin auf dem Prüfstand:       

 

Barbara Ehrenreich: „Wollen wir ewig Leben? Die Wellness-Epidemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle“, aus dem Englischen von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann. Verlag Antje Kunstmann, München 2018

 

Dieses Buch polarisiert. Unerbittlich konfrontiert es den Leser mit der eigenen Endlichkeit und stellt Errungenschaften der modernen Vorsorge-Medizin samt Wellness-Kult – seit dem 21. Jahrhundert aus der Sicht der Autorin zu einer Art Kontrollinstrument über den Körper mutiert – radikal infrage. Ein Affront für alle, die darauf gebaut haben. Wasser wiederum auf die Mühlen derer, die dieser Entwicklung eher misstrauen und sich, nicht selten mit schlechtem Gewissen, dem in ihren Augen “Vorsorgeterror“ verweigern. Zu guter Letzt handelt es sich jedoch zugleich um eine veritable Kapitalismus-Kritik. Mit keiner Angst lässt sich so gut Geschäfte machen als mit der Angst vor dem Tod, die noch jeden in die Knie gezwungen hat. Hier locken Billionengeschäfte. Zumal angesichts der Flut an Methoden, Mittelchen und Heilversprechen, allesamt mehr oder weniger kostspielig. 

Ausgehend von der eigenen Erfahrung einer lebensbedrohlichen Erkrankung und der daraus für sie resultierenden Erkenntnis, dass unser Körper und Geist, und sei es durch noch so große Anstrengung, mitnichten unter Kontrolle zu bringen seien, diskutiert Ehrenreich, promovierte Biologin und Journalistin Jahrgang 1941, dies in zwölf Kapiteln. Beginnend mit der mit Verve vorgetragenen Revolte gegen Früherkennungsuntersuchungen, zitiert sie etwa den Arzt und Blogger John M. Mandrola: „Statt zu fürchten, dass eine Krankheit nicht entdeckt wird, sollten Patienten wie Ärzte lieber das Gesundheitswesen fürchten. Der beste Weg, medizinische Irrtürmer zu vermeiden, ist medizinische Behandlungen zu meiden.“ Und nicht ganz zu Unrecht prangert sie Profitgier als Grund für all die Screenings und Tests an. Insbesondere mit der indessen umstrittenen Mammographie geht sie ins Gericht und preist am Ende die Freiheit, die ohnehin begrenzte Lebenszeit, statt in meist überfüllten Wartezimmern zu verbringen, für Projekte eigener Interessen zu nutzen. Und nicht wenigen Frauen mag es Genugtuung verschaffen, wie sie gängige Untersuchungsmethoden, etwa in der weitgehend noch immer Männerdomäne Gynäkologie, als „Rituale der Demütigung“ entlarvt. Erheiternd wiederum, wenn sie magische Rituale indigener Stämme augenscheinlich rational getarnten, häufig mit Übergriffen einhergehenden heutiger „Medizinmänner“ in Weiß gegenüberstellt und das Verhältnis Arzt und Patient als „Ritual von Beherrschung und Unterwerfung“ entzaubert. 

Als entscheidendes Verdienst des Werks erweist sich jedoch, inwieweit Ehrenreich anhand einleuchtender Beispiele herauskristallisiert, welchen Einfluss der zunehmende ökonomische Druck auf immer breitere Teile der Bevölkerung nimmt und wiederum mit der expandierenden Sorge um die eigene Gesundheit sowie der aufkommenden Wellnessindustrie zusammenspielt. Desgleichen postuliert sie einen Zusammenhang zwischen zunehmender Verdrängung der Geisteswissenschaften im Zuge der 90er Jahre, einhergehend mit einem Heer verarmender Intellektueller – exemplarisch hierfür der Taxifahrer mit Doktortitel oder der auf die Tafel für Bedürftige angewiesene Akademiker – und den im gleichen Atemzug sich etablierenden Methoden zur Selbstoptimierung. Vom Fitness-Studio, wo man mit geringem Aufwand eine Menge Geld verdienen könne, über jede Menge neuer Methoden des New Age, sei es Rolfing, Yoga oder Meditation, um nur einige zu nennen. Und sie beobachtet die Abkehr vieler vom Studium der Sozialarbeit und Umweltfächern zugunsten von Betriebs- und Volkswirtschaft: „Wenn man schon nicht die Welt verändern und nicht einmal die eigene Karriere steuern konnte, so konnte man doch wenigstens den eigenen Körper kontrollieren ...“ Zugleich ist in jüngster Zeit ein unerwarteter Anstieg der Sterberate armer weißer Amerikaner zu verzeichnen, der laut Ehrenreich aber, ähnlich wie der Anstieg der Sterberate in den 90er Jahren nach dem Zusammenbruch der UdSSR, vordergründig weniger deren ungesundem Lebensstil als vielmehr dem Verlust grundlegender ökonomischer Absicherung und damit einhergehendem Druck geschuldet sei.

Indessen avancierten Indizien sportlicher Aktivitäten oder Fitness, wie Yogamatte oder Marken-Trikot, zum Statussymbol, angefeuert von entsprechenden Coaches. Rank und Schlanksein inbegriffen, gefolgt vom moralisch verordneten Nichtrauchen. Im 21.Jahrhundert nimmt zusehends die Selbstüberwachung ihren Lauf, die passende App liefert die Anweisungen und die Krankenkassen brauchen nur noch die Daten aufzugreifen und demensprechend ihre Tarife anzupassen.

Überhaupt erweist sich Ehrenreich als so kompetent wie souveräne Chronistin der zahlreich aufkommenden Zeitgeistphänomene, die sie einer erfrischenden Analyse unterzieht, dabei frech dem Tod ins Auge blickend. Vom Mythos ‚gesunden’ Alterns, über Achtsamkeitsbewegung, Ganzheitlichkeit und systemische Ansätze bis hin zur Rolle des Ichs, der Huldigung des Selbst, damit einhergehend Selbstfürsorge und Eigenliebe. Allesamt darauf ausgerichtet, Leib und Leben gesund zu erhalten. 

Hat sie doch ihr Leben gelebt, ohne sich – abgesehen vom selbst auferlegten Gang ins Fitness-Studio – dem Kontrollzwang der Medizin zu unterwerfen oder sich dem Diktat der Gesundheitsindustrie zu beugen. Vielmehr würde man ihr ‚Genuss ohne Reue’ auf die Fahnen schreiben wollen. Und da folgen wir ihr doch gerne.

Doch lesen Sie selbst. Lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Antje Kunstmann! 

  Datei zum Herunterladen im Archiv 

Sachbuchtipp März 2018

Sachbuchtipp April 2018 

 Von „Gackelfreude“ und „Pinkepank“

Ein Wörterbuch der besonderen Art 

© Hartmut Fanger 

Peter Graf (Hrsg.): „Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch“, Verlag Das kulturelle Gedächtnis GmbH, Berlin 2018

 

Das Grimmsche Wörterbuch, auch als „Der Grimm“ oder als das „Deutsche Wörterbuch“ bekannt, bildet die Grundlage Jahrhunderte langer Sprachforschung. Mit Belegstellen von Luther bis Goethe das erste seiner Art mit dem Ziel, der 1838 noch vorherrschenden Vielstaaterei etwas entgegenzusetzen. Peter Graf hat sich nun die Arbeit gemacht, die, wie schon der Titel verrät, schönsten und heute gänzlich unbekannten Wörter aus dem insgesamt 34.800 Seiten umfassenden Werk auf 362 Seiten ausfindig zu machen. Wobei er in der Auswahl keinen wissenschaftlichen Anspruch oder gar den auf Vollständigkeit erhebt. Herausgekommen ist dabei eines der liebevollsten, humorvollsten und vor allem poetischsten Sachbücher unserer Zeit, das vor „Lust am Text“ förmlich birst. Wie ihm auch anzumerken ist, dass sein Herausgeber Peter Graf die Arbeit daran nie als solche empfunden hat, sie sich eher wie Ferien anfühlte. Wobei der Charakter eines Wörterbuchs aufrechterhalten wurde, die jeweiligen Begriffe dem Alphabet nach geordnet sind. Von „ANDUSSELN“ bis „ZWICKZWACKEREI“, von „BACHSCHNATTERIG“ bis „WUNDERWIRKLICH“,  von DÄMELENDAMMELEN“ bis „STRAHLENSILBERFLITTER“. Jedes dieser Wörter, vielfach überdies onamatopoetisch anmutend, wird von den Gebrüdern Grimm und später daran tätigen Autoren mit Textstellen belegt und, wenn nötig, natürlich kommentiert und analysiert, was sich, wie die Wörter selbst, humorvoll liest. So zum Beispiel der Kommentar zu dem inzwischen vergessenen Wort „LILAPS“, worunter wir ,das Zitat „unser junger graf konrad hat einmal wieder schlimme streiche gemacht ... ein rechter lilaps und bannepampel“ finden. Oder wussten Sie, lieber Leser, was „FINKELFECH“, „IGELISCH“ und „MOPSNÄSICHT“ bedeuten? Lassen Sie sich überraschen! 

Zusätzlich besteht der Reiz darin, dass zwar vieles aus dem Volksmund, das meiste jedoch aus der Feder von Dichtern stammt. Gemeinsam gibt das Ganze einen mehr oder weniger vollständigen Eindruck des einstigen, zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Sprachgebrauchs wieder. 

Das Wörterbuch wurde nach dem Tod der Gebrüder Grimm fort und fort entwickelt bis es 1961 zu einem vorläufigen Abschluss fand. Peter Graf ist es zu verdanken, dass er darauf aufmerksam macht, dass auch zur Zeit des Nationalsozialismus daran gearbeitet wurde, was zu einem nicht zu übersehenden antisemitischen Einfluss führte, der – und das ist das eigentlich Skandalöse –  bis heute nicht behoben oder zumindest kommentiert worden ist. Weder in der gedruckten noch in der digitalisierten Fassung. Dementsprechende Begriffe werden in dem vorliegenden Band allerdings bewusst ausgelassen, was dem Projekt nur gutgetan hat.  

Neben dem Erkenntnisgewinn besitzt dieses außerordentliche Werk nicht zuletzt beachtlichen Unterhaltungswert. Wobei sein Herausgeber die Absicht, den Spieltrieb zu wecken, durchaus nicht verschweigt. Dazu gibt er uns Lesern den Tipp an die Hand, das Werk zum Rätselraten zu verwenden und herauszufinden, was etwa unter den einzelnen Wörtern wohl verstanden werden könnte, oder sich zu eigenen Wortschöpfungen anregen zu lassen. 

Nicht unerwähnt bleiben darf, last but not least, die ästhetisch ansprechendeGestaltung. Der mit einzelnen Buchstaben des Alphabets und Vignetten versehene Einband, Schrift und Graphik in Grün- und Blaudruck gehalten, geben einen treffenden Eindruck von der Entstehungszeit des  Wörterbuchs wieder. 

Alles in allem ein erlesenes Vergnügen, nicht nur für Sprachbesessene!

Doch lesen Sie selbst. Lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Das kulturelle Gedächtnis!

  Datei zum Herunterladen im Archiv 

Brückenbauer zwischen den Welten

© Hartmut Fanger  schreibfertig.com:

                                                                                                                                                                                                                                             

 

Navid Kermani: „Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“, Verlag C.H.Beck oHG, München 2018

 

Im Auftrag des „Spiegel“ reiste Navid Kermani durch für ‚Westler’ weitgehend unbekanntes Terrain. Daraus entstanden ist ein Tagebuch der besonderen Art. Spannend und mitreißend wie ein Roman, detailliert und kenntnisreich wie ein Bericht, originell, sachkundig und informativ wie ein Essay. So nah an den Ereignissen, wie es nur die Reportage vermag. Ein Buch, das all diese Genres in sich vereinigt, was nicht zuletzt seine bemerkenswerte stilistische Qualität ausmacht – lehrreich, unterhaltsam und durchweg packend. Dabei versteht es Kermani, uns die entlegensten Winkel nahezubringen. Und das weniger im touristischen Sinne als vielmehr im historisch-politischen wie kulturellen Kontext.

Eingerahmt von Textauszügen aus seinem Werk „Dein Name“, startet das Ganze in Schwerin. Von dort aus sucht er an 54 Tagen, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, so aktuelle wie historische Brennpunkte auf: Ausschwitz, Krakau, Warschau, Kaunas, Vilnius, Minsk, Tschernobyl und Krasnapolle, Kiew, über das Schwarze Meer bis nach Odessa; weiter entlang der Krimküste, Grosny, Tiflis, Aserbaidschan, Baku, Eriwan, das Kaspische Meer, Teheran bis schließlich  Isfahan, wo die Eltern des deutschen, in Siegen geborenen Autors und seit 2015 Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels noch heute leben. Doch bis dahin ist der Weg weit. Und so gelangt er zunächst über Berlin nach Breslau, von dort dann nach Ausschwitz, wo ihm eine einschneidende Lektion erteilt wird. Als er ein Schild an die Brust geheftet bekommt, das ihn als Deutscher ausweist, fühlt er sich auf Anhieb schuldig. Waren es nicht Deutsche, die den Juden einen Judenstern an die Brust geheftet hatten? Und waren es nicht Deutsche, die tausend und abertausende Juden hier her und nur ein paar Kilometer weiter nach Birkenau verfrachtet hatten? Kermani beschönigt nicht und es scheint in sich nur stimmig, wenn er am Ende einer Jugendgruppe aus Israel begegnet und mit einigen von ihnen in ein versöhnliches Gespräch kommt. Dabei wird deutlich, wie entscheidend gerade für junge Menschen solch ein Besuch ist. So erklärt eine etwa Siebzehnjährige aus Israel, dass für sie vor Ausschwitz ‚der Holocaust lediglich eine Schullektüre’ gewesen sei, die sie ‚nicht mehr als Algebra interessiert hätte’. Doch dies sei nun für sie ‚real’ geworden und sie ‚begreife’, „was es bedeutet, Jüdin zu sein, Israelin zu sein“.

Es sind tiefgreifende Erfahrungen und Begegnungen, mit denen es Kermani auf 441 Seiten gelingt, uns immer weiter und tiefer in die Fremde zu locken. Und ungeachtet dessen, dass Völkermord an Völkermord, Krieg an Krieg sich reiht, Vernichtung und versuchte Ausrottung ganzer Völkerstämme die Geschichte der

östlichen Regionen prägen, zieht er uns in den Bann. Immer wieder ist von Unterdrückung, Vertreibung, Diktatur, Zerstörung, Verarmung und Militarisierung, von Mord und Totschlag die Rede. Und es ist nur der Schreibkunst des Autors zu verdanken, seiner Neugier und Offenheit, dass wir mehr und mehr erfahren, weiter und weiter in das von ihm vor Augen geführte Gebiet vordringen wollen. Und nicht zuletzt ist es natürlich auch der Bezug zu dem anderen, ehemals tiefer im Osten gelegenen Deutschland, den er wachruft, heute polnisches Gebiet. Repräsentiert etwa in mancher der Schriften von Günter Grass oder von Siegfried Lenz, die er angesichts der Masurischen Seenplatte namentlich hervorhebt. Wer kennt die Geschichtensammlung „So zärtlich war Suleyken“ nicht.

Und es sind vor allem Schriftsteller und Kulturschaffende, die uns im Gespräch mit Kermani das Leben vor Ort in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor Augen führen. So zum Beispiel die Nobelpreisträgerin für Literatur Swetlana Alexijewitsch aus dem weißrussischen Minsk, bekannt geworden mit ihrem in russischer Sprache verfassten Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“, die die Atomkatastrophe und deren radioaktive Folgen zum Gegenstand hat. Sie ist der Meinung, dass dies nur in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe entstehen können, „als sich die alte Ordnung noch nicht restauriert hatte.“ Heute scheint es zusehends schwieriger, etwas publizieren zu wollen, wenn die Inhalte den Mächtigen nicht genehm sind. Als sie 2015 den Nobelpreis erhielt, wurde sie ‚vom Präsidenten der Verleumdung ihres Landes’ bezichtigt.

Angesichts der unzähligen Missstände, denen wir nahezu ununterbrochen, Seite für Seite, begegnen, lesen sich die zahlreichen Besuche Kermanis in Kirchen, Moscheen, Synagogen und Museen wie eine Art Inseln von Hoffnung und Trost. Hoffnung stellt für ihn außerdem ein friedvolles Europa dar. Ebenso wie Europa jenen Hoffnungsträger vieler von Russland abhängiger Staaten bildet.

Davon abgesehen, fällt bei nahezu jedem geschilderten, relativ harmlosen Spaziergang in den Metropolen des Ostens die mehr oder weniger starke Bindung an Putin ins Auge. So heißt zum Beispiel die ‚Prachtmeile’ in Grosny ‚selbstverständlich’ „Putin-Prospekt“. Jener Ort, an dem zur Zeit des Tschetschenien Krieges noch ein Hochhaus stand, in dessen Keller eine alte Frau hatte flüchten wollen und nicht hineingelassen wurde. Schließlich hatte sie das Weite gesucht. Kurz darauf wurde das Haus von einer Bombe getroffen und diejenigen, die sich in besagten Keller geflüchtet hatten, waren darin allesamt zu Tode gekommen. Nur die alte Frau hat überlebt. Heute stehen dort prunkvolle, ‚von außen hell erleuchte Gebäude, in deren Fenstern jedoch kein Licht brennt’, wie Kermani feststellt. Unbewohnt scheinen auch die meisten Wolkenkratzer zu sein, wobei sich die Frage nach Grosny als einem Potemkinsche Dorf aufdrängt.

Zu weiten Teilen zeichnet das Buch ein Bild von zahlreichen Ruinen und Massengräbern, tief verwurzeltem Hass. „Entlang den Gräben“ kann schließlich als ein Versuch angesehen werden, die Gräben zwischen Völkern und Staaten, zwischen den Menschen, zu überwinden, mögen sie noch so tief sein. Am Schluss knüpfen wir noch einmal an Kermanis Faszination heiliger Stätten und Moscheen an, die, wie oben bereits erwähnt, Trost und Hoffnung zu stiften vermögen. Und so ist es kein Zufall, dass er am Ende schildert, wie er seine Freunde aus Deutschland durch die Altstadt von Isfahan in die Scheich Lotfollah-Moschee führt. Der lange Blick in die Kuppel dort zeigt ihm, dass ‚es keine bessere Welt gibt’.  Ein wichtiges Buch, ein Buch, das Brücken baut zwischen Ost und West und so zur Verständigung beitragen mag.

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem C.H. Beck-Verlag!

  Datei zum Herunterladen im Archiv 

Sachbuchtipp Januar - Februar 2018

© Hartmut Fanger schreibfertig.com:

Zwei Ikonen in Musik und Politik

Liedermacher im Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit  und Humanität. Zeitgeschehen in Biographie und Autobiographie

                                                                                                                                                                                                                                             

Jens Rosteck: „Joan Baez. Porträt einer Unbeugsamen“, Osburg Verlag, Hamburg 2017

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessere Zeiten!“, Ullstein Verlag, Taschenbuch, Berlin 2017

Für beide Liedermacher und Interpreten war 2016 ein besonderes Jahr. Wolf Biermann feierte seinen 80., Joan Baez ihren 75. Geburtstag. Anlässlich der Jubiläen erschien 2017 im Osburg Verlag die Biographie „Joan Baez. Porträt einer Unbeugsamen“ und im gleichen Jahr im Ullstein Verlag die Taschenbuchausgabe der Autobiographie von Wolf Biermann „Warte nicht auf bessere Zeiten“. Was haben die beiden Musiker, möchte man meinen, so unterschiedliche Sterne des Folk- und Politsongs, miteinander zu tun. Bei eingehender Lektüre stellt sich schnell heraus: eine ganze Menge. So erzählt Jens Rosteck in seiner Biographie, wie Joan Baez im Mai 1966 nach Ost-Berlin kam und eines Nachmittags ‚an der Wohnungstür des regimekritischen Liedermachers läutet’, ihn schließlich an Stasi-Mitarbeitern vorbei mit in ihr Konzert im Staatskabarett „Distel“ schleust, dessen Zugang ihm sonst verwehrt geblieben wäre. Vor dem ausschließlich aus SED-Treuen bestehenden Publikum trägt sie auch ein eigens ihm gewidmetes Lied vor. Dabei versteht es Rosteck, die Episode so spannend wie einen Roman zu erzählen. Wolf Biermann steht dem in nichts nach. Und es ist Volker Weidermann vom „Spiegel“ nur zuzustimmen, der dessen Autobiographie als ’einen großen, einen überwältigenden Deutschlandroman’ bezeichnet. Packend, aus der Feder des einstigen, vom Regime gegängelten DDR-Liedermachers, wie Joan Baez den Türwächtern „wie eine Athena im Zorn“ damit drohte, nicht auftreten zu wollen, wenn er nicht mithineinkäme, und ihm ‚das Herz hoch zum Hals schlug’, als sie ausdrücklich „‚Oh freedom’, dedicatet to my friend Wolf Biermann“, intonierte. Natürlich wurde das einst fürs Fernsehen der DDR aufgezeichnete Konzert nicht gesendet. Über anderthalb Jahrzehnte später begegneten sich Baez und Biermann 1983 auf dem legendären Konzert „Künstler für den Frieden“ im Hamburger St.Pauli-Stadion, wo im strömenden Regen neben Joan Baez auch Harry Belafonte auftrat. 

Die Joan Baez-Autobiographie von Jens Rosteck zeichnet sich schon aufgrund der so umfangreich ausformulierten und detaillierten, sich über 30 Seiten erstreckenden Zeittafel am Ende aus. Von der Geburt eines ihrer Vorbilder, Woody Guthrie, im Jahre 1912, bis hin zur Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame im April 2017 und darüber hinaus zu ihrer Ankündigung einer ‚knapp zweiwöchigen Veranstaltungsserie für das Pariser Olympia’ im Jahre 2018. Geburts- und Sterbedaten ihrer Mitstreiter sowie Daten politischer Ereignisse inbegriffen.   

Doch ist die Biographie nicht nur insofern allein schon eine kleine Sensation, als deren Verfasser Jens Rosteck akribisch auch noch kleinsten Regungen im äußeren wie inneren Leben der ‚streitbaren Nachtigall’, so Biermann, nachgeht. Vom streng christlich geprägten Elternhaus bis hin zur begnadeten Vollblutmusikerin, von der ersten Gitarre – einer Gibson – bis hin zur ersten Langspielplatte, von ihrer Beziehung zu den Eltern und derer beruflich begründeten Umtriebigkeit bis hin zum Appell der Sangeskollegin und Freundin Judy Collins an Joan Baez’ fünfundsiebzigsten Geburtstag: sie solle für ihr Engagement den Friedensnobelpreis erhalten. Darüber hinaus illustriert von einer Vielzahl an Fotos. Joan Baez, die es zeitlebens verstand, mit ihren zarten Balladen und sozialkritischen Hymnen auch die härtesten Rockanhänger zu überzeugen. Eindrucksvoll vermittelt Rosteck in Rückblenden Konzerterlebnisse, die für jeden, der dabei war, unvergesslich bleiben würden. So zum Beispiel, als sich Joan Baez vor 60.000 Zuhörern mit ruhigen Liedern von Simon & Garfunkel, Bob Dylan und den Beatles auf einer Rock-Show 1978 in Ulm zu aller Überraschung gegenüber Namen wie Frank Zappa und Genesis behauptet. Bezeichnend nicht zuletzt ihr politisches Engagement, sich stets für die Armen und Schwachen, gegen Gewalt und Krieg einsetzend, ebenso wie für ungerecht Behandelte und Verfolgte. Über eine weite Lebenspanne hinweg engagagiert sie sich für Amnesty International, „...für ein besseres, menschenwürdigeres und gerechteres Dasein in Freiheit“. Ebenso wie sie sich gegen das einstige Apartheit-Regime in Südafrika ausspricht, sich im Kampf gegen Aids stark macht, die Rolle der USA in Nicaragua kritisiert oder demokratische Grundrechte in China einfordert, um nur einiges aus ihrem vielfältigen Wirken aufzuführen. Mit Mercedes Sosa steht sie angesichts der damaligen Diktatur in Argentinien auf der Bühne, in Europa mit Konstantin Wecker und Bettina Wegner. Sie trifft Polit-Größen wie Lech Walesa in Polen und Francois Mitterand in Frankreich, setzt sich im Wahlkampf maßgeblich für Barack Obama ein und ist eine so engagierte wie überzeugte Gegnerin von Donald Trump.   

Und natürlich gibt ein entscheidendes Kapitel ihre Beziehung zu Bob Dylan ab. Der spätere Literaturnobelpreisträger verglich ihre Stimme, so Rosteck,  einst mit der einer Sirene Homers, die ‚einen in den Bann schlägt’ und dafür sorgt, dass ‚man vergisst, wer man ist’. Ja, Baez und Dylan waren einmal ein Paar. Und dies wird schon aufgrund der Vielfalt an schöpferischer Energie in dieser Beziehung und der daraus resultierenden musikalischen Qualität in Erinnerung bleiben. Schließlich zählt Joan Baez als ‚Dylan-Interpretin der ersten Stunde’, die ‚den Beweis antrat, dass man Dylan-Songs auch schön und konzentriert singen kann’. Dylans „Forever Young“ und jenes „Tears of Rage“ mit seinen „alttestamentarischen und zugleich shakespearhaften Zügen“ belegen dies überzeugend. Und es scheint bezeichnend, dass sie ausgerechnet in dem Jahr, als Martin Luther King und Robert Kennedy jeweils einem Attentat zum Opfer fielen, der Prager Frühling seine Blüten trieb und die Pariser Mai-Unruhen begannen, ein ganzes Doppelalbum mit Dylan-Liedern aufnahm.

Von Bob Dylan findet sich hingegen in Biermanns Autobiographie wenig. Dabei hatte Letzterer 2003 ein ganzes Buch über den von ihm selbst übersetzten Song Dylans „Eleven Outlines Epitaphs“, sprich „Elf Entwürfe für meinen Grabspruch“ geschrieben, worin er nicht nur in aller Ausführlichkeit das Lied interpretiert, sondern den Inhalt auch mit seiner einstigen Situation in der ehemaligen DDR vergleicht. Darüber hinaus vertritt er darin die Meinung, dass Dylan den Literaturnobelpreis verdient hätte. In seiner Autobiographie erwähnt er Dylan ein Mal, als er dem durch das Gedicht „Howl!“ bekannten Beat-Poeten und Freund Dylans, Allen Ginsberg, begegnet, den er als „noch ichbesessener als ich“, O-Ton Biermann, beschreibt. Hervorgegangen daraus ist schließlich die „Ballade vom preußischen Ikarus“, die, so Biermann, im Hinblick auf seine Ausbürgerung einen Tag nach seinem 40. Geburtstag im Jahre 1976 „zu einer self fulfilling prophecy missriet“. Den Stasi-Akten konnte er später entnehmen, dass ‚bereits seit Honneckers Machtantritt die  Überlegung, seit 1974 der feste Plan bestand, ihn bei einer propagandistisch günstigen Gelegenheit in den Westen zu entsorgen’. In Köln wurde dann das inzwischen legendäre viereinhalbstündige Konzert selbst zu einem denkwürdigen Abend und großen Erfolg. Packend, nicht minder humorvoll, liest sich, wie Biermann sich darauf vorbereitet, sein Programm im kleinen Kreis bei Günter Grass vorstellt, dabei gegen eine Erkältung anzukämpfen hat und schließlich während der Vorstellung, seiner Meinung nach, den ‚schmalen Pfad’ einer ‚solidarischen Kritik’ an der DDR beschreitet. Von der darauf folgenden Ausbürgerung erfuhr er dann am 16. November im Autoradio ... 

Mit der Ausbürgerung beginnt nicht nur ein weiteres großes Kapitel in Biermanns Leben, sondern, möchte man meinen, auch der Niedergang der einstigen DDR, was Biermann vermutlich eher verneinen würde. Denn die ‚in Feuilletons gelegentlich geäußerte Annahme, dass die Ausbürgerung der Anfang vom Ende der DDR’ sei, hält er schlichtweg für falsch: „Keine  DDR konnte kippen, weil sie irgendeinen jungen Mann mit Gitarre ins Deutsch-Deutsche Exil jagt“. Nichtsdestotrotz hat dies in der Öffentlichkeit Unruhe gestiftet. Solidaritätsbekundungen, insbesondere vieler Schriftsteller- und Musikerkollegen, und erbitterte Gegnerschaft sind die Folge. Zeitgeschehen, das längst schon wieder Geschichte geworden ist. Von seinem in Ausschwitz ermordeten Vater bis hin zum Tod seines Freundes Robert Havemann, von seiner jüdischen Taufe bis hin zu der Überzeugung, Kommunist zu sein. Von seiner Lebenspartnerin Eva-Maria Hagen bis hin zur langjährigen Ehe mit Pamela Biermann. Nicht zu vergessen: seine insgesamt zehn Kinder. Von seiner Absage an den Kommunismus bis hin zum Mauerfall. 

Und Biermann gibt zahlreiche Beispiele, Episoden zum Besten, liefert Daten und Fakten und eine dialektische Sicht der Dinge. Mit der Ausbürgerung des einst als überzeugter Kommunist in die DDR übersiedelten und nun vom System verstoßenen Liedermachers und Dichters schien es mit seiner Karriere vorbei zu sein. So zumindest glaubte es Biermann zunächst. Doch es kam anders. Legendäre Konzerte folgten. So am 1. Dezember 1989 in der Leipziger Messehalle oder zum 25. Jahrestag des Mauerfalls (2014) im Berliner Ensemble (BE). Er war prominenter Mitstreiter bei politischen Aktionen, etwa als Teilnehmer an einer Demonstration gegen Atomkraft in Brokdorf. Ebenso wenig wie es an illustren Begegnungen, wie etwa mit Jean-Paul Sartre in Paris, mangelte, von Mikis Theodorakis wiederum wird er nach Kreta eingeladen, wo er den Wahlkampf zur Präsidentschaft von Francois Mitterand in Frankreich vorbereitet. Helmut Schmidt trifft er in der Zeit-Redaktion am Speersort in Hamburg. Und er begegnete noch unzähligen weiteren berühmtberüchtigten Kollegen und Kolleginnen in West und Ost.

Spannend dann die Einsicht in die Stasi-Akten, die Aufarbeitung der DDR-Diktatur und deren Unterdrückungsmechanismen, die ‚bittere Enttäuschungen, aber auch hinreißende Ent-Täuschungen’ mit sich brachten.

Wolf Biermann, ein Mann mit Ecken und Kanten, an dem sich die Gemüter bisweilen erhitzen mögen, vor allem aber ein Mann nicht nur des gesungenen, sondern auch des geschriebenen Wortes. Schon deshalb ist seine Autobiographie lesenswert. Hinzu kommen die zahlreichen vorzüglichen Gedichte und Liedertexte, wie zum Beispiel  „Und als wir ans Ufer kamen“ oder „Ermutigung“, sowie eine Vielzahl von privaten wie offiziellen Fotos.

Beide Bücher sind von Zeitgeist getränkt, beinhalten das Ringen bemerkenswerter Künstlerpersönlichkeiten nach Anerkennung, Freiheit, Gerechtigkeit und  Humanität und sind so unterhaltsam wie schon von der Historie her auch lehrreich.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

  Datei zum Herunterladen im Archiv

Sachbuchtipp Dezember 2017

© Erna R. Fanger  schreibfertig.com 

Alle Wege sind offen,

und was gefunden wird, ist unbekannt.

Es ist ein Wagnis,

ein heiliges Abenteuer.

Pablo Picasso

Plädoyer für die Chancen in einer

sich wandelnden Welt

                                                                                                                                                                                                                                             

Ranga Yogeshwar: „Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017

Was zum Leidwesen der Bürger bislang in der Politik eher am Rande behandelt, dafür umso mehr als latente Bedrohung wahrgenommen wird, die Angst macht, fächert Yogeshwar hier im Detail auf: vom Umbruch im Zuge der digitalen Revolution, einhergehend mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen, der Vernetzung immer größerer Datenmengen, Massenüberwachung und dem Schwinden der Privatsphäre, über die Konsequenzen des Internets im Bereich Medien und Bildung, bis zu dem Feld der Gentechnik und Ernährung, Gesundheitswesen, Energiewende, Industrie. Exemplarisch hier die Autoindustrie, deren Krise sich bereits abzuzeichnen beginnt und sich im Zuge von zunehmendem Car-Sharing und Umweltbewusstsein verschärfen könnte. All dies unter den Vorzeichen der so stetigen wie stetig sich beschleunigenden Fortentwicklung und Ausdifferenzierung autonomer Maschinen und intelligenter Algorithmen, die unumgänglich ethisch-moralische, aber auch juristische Belange neu zu definieren erfordern, überdies eine erschreckende Eigendynamik entfalten, wo der Mensch Gefahr läuft, seine Autonomie einzubüßen. Zugleich sprechen wir hier von Innovationen, die sich im Zuge des Endes der Kausalität zugunsten von Korrelation wechselseitig beeinflussen, was das rasante Tempo, in dem sich die Prozesse im 21. Jahrhundert vollziehen, zusätzlich steigert und damit einhergehend die Gefahr, sie nicht mehr steuern zu können. Doch während mancher, der sich mit dem Thema dieses rasanten, in sich komplexen Wandels auseinandersetzt, uns mit ausweglos anmutenden Schreckensszenarien konfrontiert, gelingt es Yogeshwar hier, uns die Risiken, aber auch – und das ist das Verdienst seines Buches – vor allem die Chancen, die er in sich birgt, nahezubringen. Und zwar unaufgeregt, besonnen, mit leichter Feder und im Plauderton, versteht er es doch, seine so breit gefächerten wie fundierten Kenntnisse so in „Geschichten“ zu packen, dass die darin transportierten komplexen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Zusammenhänge auch für den interessierten Laien leicht zugänglich, ja durchaus von Unterhaltungswert, da spannend geschrieben, sind.

Yogeshwar, als Naturwissenschaftler und Physiker begnadetes Ausnahmetalent, stellt dabei Wissenschaft grundlegend zugleich auch infrage, erachtet er doch das Geheimnis des Lebens als größer als rationale Erkenntnis. Viele der hier geschilderten Szenarien hat er hautnah miterlebt. So war er etwa mehrmals zu Forschungszwecken und Dreharbeiten in Tschernobyl, ebenso wie er Fukushima besucht hat, dort Zeuge der dramatischen Versuche wurde, die allumfassenden Schäden einzudämmen, Normalität und Alltag wieder in Gang zu bringen. Beide Brennpunkte im wahrsten Sinne des Wortes haben ihm einmal mehr Atomkraft als Irrweg bestätigt. Ebenso wie sich in seinen Augen die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche als Irrweg ausnimmt. So etwa im Gesundheitsbereich oder in der Kultur. Was dort geleistet wird, lässt sich nicht in kommerziellem Nutzen bemessen. Vielmehr bedürfen diese Bereiche der besonderen Unterstützung aller Mitglieder der Gesellschaft.

Yogeshwar verweist auf die ungleiche globale Verteilung des Reichtums ebenso wie auf die Wurzeln besagten Übels, die unschwer in der Rolle Europas und der USA auszumachen sind, die im Zuge des Kolonialismus Jahrhunderte lang indigene Völker „massakrierten“, versklavten und sich deren Rohstoffe bemächtigten, Letzteres bis heute, etwa im Kongo. An dieser Stelle darf auch die weltweite Produktion von Gütern in Billiglohnländern nicht unerwähnt bleiben. Und all dies im Gestus der Überlegenheit der weißen Rasse, was gleichwohl bis heute fortwirkt und nicht zuletzt in der Flüchtlingspolitik seinen Niederschlag findet. So entlarvt er etwa, ist wie so oft von „Nordafrikanern“ die Rede, die Anonymisierung im Zuge solcher Reduktion auf die ethnische Zugehörigkeit als „Merkmal kolonialen Denkens“. Doch auch wenn Yogeshwar immer wieder den Finger in die Wunde legt, soll dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Weltlage verifizierter statistischer Daten zufolge nicht, wie es den Anschein hat, immer katastrophaler würde, sondern das Leben insgesamt für alle Menschen auf dem Globus in den letzten circa 30 Jahren zunehmend besser geworden ist, überzeugend dokumentiert auf der Internetseite „Our World in Data“. Allein die Veränderung der Rolle der Frau etwa, Stärkung ihrer Rechte und weltweit zunehmende Sensibilisierung für Gewalt gegen Frauen belegen dies. Aber auch die soziale und rechtliche Anerkennung von Transsexualität, der Schwulen und Lesben, jüngst gipfelnd im Ja zur Homoehe im Bundestag.

Die auf uns zukommenden Veränderungen mögen gravierend sein, und sie betreffen alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Die Ausführungen Yogeshwars hierzu sind zugleich als Kompass lesbar, zeigt er doch die sich andeutenden Richtungen facettenreich auf. Unmissverständlich weisen sie auf bislang unbekanntes Terrain. Es liegt an uns, eben dies zu erkunden und mutig neue Wege zu erschließen, dabei die Chancen für ein gerechteres, menschlicheres Miteinander für alle aufzuspüren und zu nutzen.

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Kiepenheuer und Witsch!

 Datei zum Herunterladen im Archiv

 

Sachbuchtipp November 2017

© Hartmut Fanger

     www.schreibfertig.com

 

Die Heimatlosigkeit eines Konservativen

                                                                                                                                                                                                                                             

Ulrich Greiner: „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2017.

Das Wort „Heimat“ – inzwischen in aller Munde – wird von Politikern aller Couleur diskutiert. Von ganz links bis rechts außen. So reiht sich auch das neue Buch des ehemaligen Chefs des Zeit-Feuilletons nahtlos in das Thema. Dabei beklagt er vor allem den Verlust einer politischen Heimat, die er als einstiger SPD- und Grünen-Wähler angesichts der Entwicklungen in den letzten Jahren nicht mehr sieht. Als Konservativer vertritt er die Meinung, dass die große Koalition von CDU und SPD unter Angela Merkel zu linksmittig, die FDP zu angepasst, die AFD zu rechts und vor allem ‚zu völkisch und braun’ sei. Unter Vorbehalt könne ein Konservativer allenfalls, wenn überhaupt, die Grünen ‚als Menschheitsretter und Weltverbesserer’ in Betracht ziehen. Die CSU wiederum, allzu rechts, könne er nicht  wählen. Ähnlich geht es dem Autor mit den Leitmedien, von den tonangebenden Zeitungen bis hin zu öffentlich-rechtlichen Anstalten, denen er „Anpassungsmoralismus“ vorwirft.  

Dabei greift er inhaltlich all das auf, was die Gemüter spätestens seit der Flüchtlingskrise und Pegida erregt, und holt zu einem Rundumschlag aus.  Von der berühmten Äußerung der Kanzlerin, „Wir schaffen das“, die zu einer unkontrollierten Einwanderung von Flüchtlingen geführt habe, bis hin zu dem Unwort „Lügenpresse“, dem er als Zeitungsmann sogar nicht einmal ganz abgeneigt zu sein scheint. Und er reflektiert die Bewertung der politischen Begriffe von links und rechts, wobei aus seiner Sicht die rechte Position eher benachteiligt sei. Dabei tut sich für ihn die Frage auf, was in der neueren Geschichte schlimmer gewesen sein mag, die Verbrechen des Nationalsozialismus oder die des Stalinismus. Darüber hinaus sieht er in dem zunehmenden Sprachgebrauch des Englischen seitens der Eliten die Gefahr, dass dadurch ‚die Kluft zum Staatsvolk unüberbrückbar wird’. Doch nicht nur das. Er beschäftigt sich auch mit der Homo-Ehe, die er ablehnt, diskutiert Befürwortung und Ablehnung der Sterbehilfe wie er ferner seine Ablehnung von Praktiken biotechnischer Reproduktion deutlich macht. Darüber hinaus kommen Glaubensfragen zur Sprache. So, wenn er zum Beispiel davon ‚überzeugt’ ist, dass „... die Differenz zwischen Orient und

Okzident  noch immer, und leider immer stärker, ihre Wirkung entfaltet“. Die Äußerungen zur Islamkritik und über „Das Wunder des Christentums“ lesen sich hier besonders spannend. Denn Ulrich Greiner ist nicht nur bekennender Konservativer, sondern auch bekennender Christ. Zweifellos ein streitbares Buch, in dem sich zum einen Befürworter bestätigt sehen, zum anderen klare Gegner herausbilden werden.

Unverkennbar ist sein geisteswissenschaftlicher Ansatz. Der relativ schmale Band sprudelt nur so von Zitaten literarischer und philosophischer Größen, wie zum Beispiel Goethe und Schiller, Gottfried Benn, George Orwell, Heinrich Böll, Immanuel Kant, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Niklas Luhmann, um nur einige zu nennen. Dabei versäumt der Autor nicht, darauf hinzuweisen, in welch ehrbarer Reihe er sich mit manch anderen namhaften, als konservativ geltenden Intellektuellen weiß, wie  beispielsweise Rüdiger Safranski, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach oder Peter Sloterdijk.

Mögen die Ansichten des Lesers noch so entgegengesetzt sein, bestechen an dieser Auseinandersetzung mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Wetterlage der so unaufgeregte wie aufrichtige Tenor ebenso wie das immense Wissen eines Homme de lettres, aus dem sie sich speist. Überdies lesenswert ist das Buch aufgrund des wunderbar leichtfüßigen, dabei nicht minder kunstvollen Sprachstils eines Mannes, der sich zeitlebens nahezu ausschließlich im Rahmen von Journalismus und Feuilleton schriftstellerisch bewegt und so wunderbare Bücher wie den „Leseverführer“ geschrieben hat.

Umso mehr mag man bedauern, dass hier bewahrt werden soll, was sich allenfalls augenscheinlich bewährt hat. Indessen der Benjaminsche „Engel der Geschichte“ unvermindert Trümmer, Grauen und Leid sich anhäufen sieht und wir doch wissen, dass längst nicht mehr politische Entscheidungen den Lauf der Welt bestimmen, sondern Machtinteressen multinationaler Konzerne, die in transnationalen Abkommen mit dem alleinigen Ziel der Gewinnmaximierung durchgesetzt werden. Über die Köpfe von Politikern und Staaten hinweg. Nicht zu beklagen, vielmehr von der Menschheitsfamilie erst noch einzulösen wäre, den Planeten zu einem Ort zu machen, der ihr in ihrer Gesamtheit Heimat böte. 

 

© Hartmut Fanger

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag!

Datei zum Herunterladen im Archiv

Der aktuelle Sachbuchtipp September-Oktober 2017

© Erna R. Fanger

www.schreibfertig.com

 

Als ob Wählen, als ob Entscheiden, als ob Nein-Sagen einfach Fähigkeiten wären, die man lernen könnte wie Schnürsenkelbinden oder Fahrradfahren. Die Dinge stießen einem zu. Wenn man Glück hatte,bekam man eine Schulbildung. Wenn man Glück hatte, wurde man nicht von dem Typen missbraucht, der das Fußballteam leitete. Wenn man sehr viel Glück hatte, gelangte man irgendwann an einen Punkt, an dem man sagen konnte: Ich werde Buchhaltung studieren ... Ich würde gerne auf dem Land wohnen ... Ich möchte den

Rest meines Lebens mit dir verbringen. Aus Mark Haddon: „The Gun“

 

Zwischen Autonomie und Ambivalenz: Ringen um die Freiheit

                                                                                                                                                                                                                                             

Beate Rössler: „Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben“, Suhrkamp Verlag Berlin 2017.

Seit Kant Grundthema der Philosophie und in westlichen Gesellschaften normativ, scheint der Begriff der Autonomie längst seinen festen Stellenwert behauptet zu haben und eine grundlegende Größe darzustellen. Bei näherer Betrachtung erweist sich allerdings, so klar umrissen, wie es scheint, manifestiert er sich in der Lebenspraxis des Einzelnen nicht. Sprich es gibt eine Menge Aspekte, die der Autonomie im Alltag entgegenstehen. So sind nicht selten überhöhte Ansprüche mit dem Begriff verbunden, die keiner in Gänze erfüllen kann. Sind wir doch als Gemeinschaftswesen miteinander verbunden, woraus sich zwangsläufig wechselseitige Abhängigkeiten konstituieren.

Die Spannung zwischen dem Selbstverständnis eines autonom ausgerichteten, selbstgestalteten Lebens und den Hindernissen, die dabei zutage treten können, lotet Beate Rössler, Professorin für Philosophie an der Universität Amsterdam, in neun Kapiteln von jeweils vier bis sechs Unterkapiteln auf 400 Seiten so kenntnis- wie facettenreich und differenziert aus. Im Zuge dessen gelingt ihr das Kunststück, die Stringenz ihres fundiert wissenschaftlichen Diskurses durch zahlreiche literarische Beispiele, in denen die Figuren mit mehr oder weniger Erfolg um Autonomie ringen, so nahezubringe, dass auch dem interessierten Laien ein lebendiger Zugang zu der Auseinandersetzung mit dem Thema und entsprechend Einblick gewährt wird. Auch wenn – es sei an dieser Stelle nicht unterschlagen – die philosophischen Debatten über Autonomie, an denen sich Rössler hier abarbeitet, nicht unbedingt für jedermann zugängig sind, sondern immer wieder geduldiger Nacharbeit bedürfen, ist man nicht bereit, bisweilen darüber hinwegzulesen.  

Dessen ungeachtet gewinnen wir Einsicht von der Definition des Begriffs bis zum Zusammenhang zwischen Autonomie und der Frage nach dem Sinn des Lebens. Von der Überlegung, wie sich Autonomie zwischen Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung etablieren kann, oder wie sie etwa in der Selbstthematisierung vom Tagebuch bis zum Blog in Erscheinung tritt. Zugleich, inwieweit Autonomie im Hinblick auf die von der Furie des Verschwindens bedrohte Privatsphäre im virtuellen Raum nicht Gefahr läuft,sich selbst zu verleugnen. Ebenso geht Rössler der Frage nach, ob die Autonomie als Wahl zwingend das gute Leben nach sich ziehe, stellt dabei aber auch zugleich die Bedingungen einer solchen autonomen Wahl infrage. Und wie verhält es sich mit der  Autonomie im privaten, häuslichen Bereich, in Beziehungen. Wie in der demokratischen Gesellschaft. Aber auch die sozialen Bedingungen von Autonomie werden durchbuchstabiert, wie z. B. Grenzfälle zwischen Autonomie und Unterdrückung. So etwa im religiösen Kontext einer Muslima, die sich frei dafür entscheidet, ihren Glauben zu leben, auch wenn sie dafür – aus Perspektive der Vertreter westlich-demokratisch geprägter Gesellschaften – Autonomie einbüßt und sich dem Dogma der Vollverschleierung  ebenso beugt wie dem des Gehorsams gegenüber ihrem Mann. Allein schon anhand dieses Beispiels wird deutlich, inwieweit der Begriff der Autonomie nicht zuletzt im Hinblick auf kulturelle, soziale und politische Voraussetzungen relativiert und differenziert werden muss.

Das Verdienst von Rösslers Autonomie-Konzeption ist ihre Distanz zu radikalen Konzepten, die allenfalls Theorien, nicht aber dem Alltag standhalten. Demnach läuft sie auch nicht Gefahr, die Bedingungen für Autonomie festzuschreiben. Vielmehr entwirft sie Autonomie als Prozess, in dem eigenständige Entscheidungen sowohl möglich sind, als man dabei zugleich jedoch auch Abstriche machen muss, um die eigene Position zu ringen hat. Im Gegensatz zu radikalen Entweder-oder-Positionen, in denen den Bedingungen von Autonomie weniger Rechnung getragen wird. Rössler gelangt schließlich zu dem Fazit, ‚alle grundsätzlichen Angriffe auf die Möglichkeit und Wirklichkeit von Autonomie zwar aus dem Weg geräumt zu haben’, ohne jedoch vor den mit dem Thema verbundenen Spannungen und Widerständen zurückgewichen zu sein. Des Weiteren räumt sie ein, dass unser normatives Verständnis des Begriffs nie unter durchgängig idealen Bedingungen realisiert werden, sprich immer nur annähernd erfüllt werden kann, dementsprechend nicht ohne Relativierung auskommt. Personen können immer nur bedingt, mehr oder weniger autonom handeln, stets abhängig vom sozialen, politischen oder biografischen Kontext. Damit grenzt sie sich bewusst ab von radikaleren Positionen, wie etwa von Harry Frankfurt vertreten. Sieht sie Autonomie doch immer schon situiert im gesellschaftlichen Kontext, worin die Verletzlichkeit der Akteure bedingt ist. Weshalb sie auch in Zweifel stellt, inwieweit einer Person Autonomie abzusprechen sei. Desgleichen postuliert sie einen Zusammenhang zwischen einem autonomen und einem sinnvollen Leben. Von einem sinnvollen Leben kann man nach Rösslers Definition nur dann sprechen, wenn wir es als unser eigenes Leben betrachten, das wir nach Maßgabe unseres Erkenntnis- und Bewusstseinsstands gewählt haben. Ein Leben, für das wir einzustehen bereit sind. Im Zweifelsfall entgegen allen Widrigkeiten, die unseren Alltag prägen, wie Ambivalenz, Entfremdung, Zerrissenheit. Rössler exemplifiziert dies anhand Siri Huvstedts Protagonistin Harriet Burden in „Die gleißende Welt“ (2015), wo die Unvereinbarkeit von Wünschen und Möglichkeiten durchgespielt wird. Dies erfordert laut Rössler einen gelassenen Umgang mit den Ambivalenzen, die unser Leben prägen, was uns nicht selten abverlangt, verschiedene Identitäten einzunehmen und zu leben. Mehr noch bedinge dies Autonomie geradezu grundlegend. Widersprüche dieser Art schmälern nicht grundsätzlich Autonomie, sondern konstituieren sie vielmehr insofern, als Autonomie durchaus keine Garantie darstellt, diese ohne jede Einschränkung leben zu können, sondern immer nur gemeinsam mit anderen.

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Suhrkamp Verlag!

 Datei zum Herunterladen im Archiv

-------------------------------------------------------------------------------------------------

Der aktuelle Sachbuchtipp Juli 2017

© Erna R. Fanger

 www.schreibfertig.com

 

Glücksschmiede unter die Lupe genommen

                                                                                                                                                                                                                                             

Nicolas Dierks: „Luft nach oben. Philosophische Strategien für ein besseres Leben“, Reihe rowohlt POLARIS, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2017.

Leicht kommt es uns in den Sinn, noch schneller über die Lippen, das derzeit Nonplusultra der Lebenskunst – das Hier und Jetzt. Axiome dieser Art weiß Nicolas Dierks, promovierter, an der Leuphana Universität in Lüneburg lehrender Philosoph, gekonnt zu hinterfragen. So konterkariert er besagtes Diktum z.B. sinnfällig zur trostlos anmutenden Perspektive eines Demenzkranken, für den dies die einzige Option ist, womit Dierks besagte Strategie schnell wieder entzaubert. Der Leser hält inne und ihm dünkt einmal mehr: Es kommt immer drauf an; die Fragen, die uns das Leben aufbürdet, sind vielschichtig und erfordern entsprechend differenzierte Antworten. Bei diesem Prozess des Sondierens hilft Dierks uns auf die Sprünge. „Das Leben im Hier und Jetzt ist nicht einfach und ursprünglich, sondern komplex und fortgeschritten“, erfordert es doch einen stets neu zu ermessenden Umgang mit dem eigenen Zeithorizont. Um diesen adäquat auszuschöpfen, kommen wir nicht umhin, zwischen Hier und Jetzt, Vergangenheit und Zukunft zu pendeln. Was die mit dem Hier und Jetzt verbundenen Vorteile nicht schmälern soll: nämlich was uns beschwert, jederzeit hinter uns zu lassen „und in den Strom des Lebens zurückzukehren, dort, wo alles fließt“ und wir wieder zur Ruhe kommen.

Letzten Endes geht es darum herauszufinden, wer wir sind. Dazu gibt uns Dierks, basierend auf Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“, ein solides Instrumentarium zur Hand: „»Wissen« meint, die Fähigkeit, sich nach Tatsachen zu richten“ – so Dierks „Arbeitsdefinition“. Wobei er einräumt, dass es unmöglich sei, im Übrigen auch  nicht nötig, ‚jemals alle Tatsachen, die auf uns zutreffen, zu kennen’. Spannend wird es, wenn der Autor in dem Abschnitt „Wie Willenskraft unsere Selbsterkenntnis sabotiert“ die Tücken des menschlichen Willens entlarvt. Deutlich gemacht anhand der Thesen im Buch des Wiener Psychiaters, zugleich Begründers der Logo-Therapie, Viktor Frankl,  „... und trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ (1946). Frankl propagiert darin eine »proaktive« Haltung gegenüber dem Leben, worunter zu verstehen sei, weniger (reaktiv) die Ursachen für das eigene Schicksal zu erforschen, als vielmehr (proaktiv) die Verantwortung für die eigene Zukunft zu übernehmen. So tiefgreifend wie überzeugend und hilfreich der Ansatz, ist er jedoch leicht zu verfehlen, tragen wir nicht auch der Tatsache Rechnung, dass ‚unser Handeln in der Welt nicht allein aus willentlicher Aktivität besteht’.

So facettenreich wie erhellend wird im Folgenden infrage gestellt, was wir  über das Leben zu wissen glauben, stets untermauert durch die Erkenntnisse der großen Philosophen, etwa eines Aristoteles’, Marc Aurels, Descartes’, Kants oder Hegels:

-       ‚Wissen wir, was wir tun, wenn wir tun, was wir wollen, oder müssen wir dahin kommen, zu wollen, was man tun muss?’

-       ‚Was im Leben ist uns wichtig, was leitet sich daraus für unseren Alltag ab? Nehmen wir, was wir als unhinterfragbar wichtig erkannt haben, wichtig genug und setzen uns mit allem, was in unserer Macht steht, dafür ein? Tun wir dafür das Richtige, und woran erkennen wir, dass es das Richtige ist?’

Wobei Fragen dieser Art weniger gestellt werden, um klar beantwortet zu werden. Vielmehr ist ihre Funktion, uns Impulse zu geben, darüber tiefer nachzudenken und zu Einsichten zu gelangen, die weiter greifen. So etwa auch zu hinterfragen,

-       ob Freiheit die Fähigkeit zur Autonomie ist, unser Leben nach unseren  eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und inwieweit es dabei unsere Gewohnheiten sind, die uns hier nicht selten einen Strich durch die Rechnung machen, ‚indem was wir tun müssen und dann tatsächlich tun, auseinanderklafft, wir dann nicht im Einklang mit uns selbst sind’.

-       Und wie steht es mit unserer inneren Freiheit angesichts eines unausweichlichen Schicksals? Wo ist demgegenüber Akzeptanz gefordert, an welchem Punkt müssen wir alles daran setzen und mit der Kraft unseres Willens zur Veränderung einer unliebsamen Situation ansetzen? Und was, wenn wir zu innerer Freiheit, innerem Frieden, zur Weisheit in uns vorgedrungen, feststellen müssen, dass wir verletzlich sind und bleiben, um den Schmerz, den die menschliche Existenz bereit hält, nicht herumkommen?

-       Oder geht mit hohem Lebensstandard zwingend entsprechende Lebensqualität einher, fallen Reichtum und Glück zwingend zusammen?

Dierks offeriert und erläutert schließlich vier Fähigkeiten, die ein gelingendes Leben, also Lebensqualität, ausmachen, und betont einmal mehr: „Unser Leben hängt ab von den Fragen, die wir stellen.“ Damit wir die richtigen Fragen zu stellen vermögen, gibt er uns einen Fragenkatalog an die Hand. Ebenso Übungen, zu produktiven Fragen zu gelangen. Wir bekommen vier Strategien von ihm geliefert, neue Gewohnheiten zu verankern, obendrein, zu guter Letzt – ein Rückfall-Management. Alles im Griff?

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag!

 Datei zum Herunterladen im Archiv

Fernschule
www.schreibfertig.com

Erzählbände der Offenen Schreibgruppe in unserer Edition schreibfertig.com:

Die Offene Schreibgruppe Online schreibfertig.com jetzt an jedem zweiten Mittwoch und an jedem letzten Samstag im Monat

Newsletter Download:

Newsletter April 2024
Newsletter04-2024.pdf
Adobe Acrobat Dokument 452.0 KB
Schreibschule
Fernstudium