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Tausendundeine Nacht Vom Orient zum Okzident

Wer sich selbst und andre kennt,

Wird auch hier erkennen:

Orient und Okzident

Sind nicht mehr zu trennen.

Goethe: „Westöstlicher Divan“

 

Spätestens seit der Flüchtlingskrise herrschen jede Menge Vorbehalte, Angst und Skepsis gegenüber allem, was aus dem Orient nach Europa drängt. Immer wieder neue Schreckensmeldungen, Terroristische Anschläge in den Metropolen unterstreichen dies und errichten eine unsichtbare Mauer, die umso schwerer zu überwinden zu sein scheint. Im Gegenteil ziehen immer mehr europäische Staaten Grenzzäune hoch, sammeln Menschen wie Vieh in Auffanglagern und versuchen, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden, sprich abzuschieben. Von einem seit Jahrhunderten gemeinsamen auf Gegenseitigkeit befruchtenden kulturellen Austausch zwischen Orient und Okzident sind wir so weit wie lange nicht mehr entfernt.

Umso erstaunlicher, wenn man derzeit vor Weihnachten in den Buchhandlungen eine Vielzahl dicker Bände mit orientalischen Märchen aus „Tausendundeine Nacht“ entdeckt. In unterschiedlichster Ausstattung und Übersetzung, ob für Kinder, ob für Erwachsene. Schillernd und mit Strahlkraft, exotisch und außergewöhnlich, nicht selten mit Golddruck und orientalischer Graphik versehen. Diese Märchen haben offenbar nichts von ihrem Zauber verloren und die Verlage wissen dies dementsprechend zu vermarkten. Der persische, bis nach 500 nach Christi zurückführende Anteil der Märchen bildet mittlerweile eine lange Tradition in deutschen Kinderzimmern. Wer hat die Geschichten von „Aladdin und die Wunderlampe“,  „Ali Baba und die Vierzig Räuber“ oder „Sindbad der Seefahrer“, um nur die bekanntesten zu nennen, nicht mit Spannung und Begeisterung verfolgt. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass in der deutschen Dichtung und Literatur inhaltlich schon früh orientalische Einflüsse zu verzeichnen sind. Insbesondere im 18. Jahrhundert finden sich Übereinstimmungen, Parallelen und Gemeinsamkeiten mit dem Islam, vor allem im Hinblick auf die  Märchen von „Tausendundeiner Nacht“.  Als Goethe 1775 nach Weimar kam, fand er Wieland vertieft in die von Galland ins Französische übersetzten Geschichten aus 'Tausendundeiner Nacht'. Motive aus dieser Sammlung tauchen im gleichen Jahr in Wielands Veröffentlichungen, wie u.a. in der "Geschichte des Weisen Danymed und der drey Kalender" im "Teutschen Merkur" auf. In den Jahren 1781‑1785 übersetzt J.H. Voß Gallands "Les Mille et Une Nuit" ins Deutsche.

Goethes Verbundenheit zum Orient über die Geschichten aus 'Tausendundeiner Nacht' hinaus deutet sich sogar schon früher, bereits in seinen ersten Lebensjahren an. Schließlich stammen auch die biblischen Geschichten, selbstverständlich zu seiner Erziehung gehörend und ihn wesentlich prägend, aus dem Orient. In seiner Jugend dürfte er dann in Straßburg, im Winter 1770/1771, durch Herder Bekanntschaft mit dem Koran gemacht haben. Über zweihundert Jahre später gelangte die Literaturwissenschaftlerin Katharina Mommsen jedenfalls zu der Einsicht, dass Goethes religiöse und philosophische Überzeugungen mit denen der islamischen Lehre zum Teil übereinstimmen. "Dies schuf ein Verwandtschaftsgefühl besonderer Art, intensiv genug, dass man sagen darf: ohne diese Affinität wäre der West‑östli­che Divan schwerlich entstanden." 

Insbesondere "Das Märchen (1785) von Goethe enthält nachweislich Motive aus „Tausendundeiner Nacht“.  Seit seiner Entstehung gilt es als hermetisch und rätselhaft.  Doch die Nähe zu „Aladdin und die Wunderlampe“ und anderen Märchen ist nicht zu übersehen. So zum Beispiel in der Figur des Alten mit der Lampe, der im Gebirge unterhalb der Erde einen Schatz sucht, die Befürchtung, in einen schwarzen Stein verwandelt zu werden, und das Ausstreuen von Goldmünzen unter das Volk. In der „Geschichte von den beiden Schwestern, die ihre jüngste Schwester beneideten“, werden dann tatsächlich Prinzen in ‚schwarze Steine’ verwandelt, nachdem sie sich verbotener Weise nach einem singenden Baum umgedreht haben. Bei Goethe ist es der Mops, der in einen schwarzbraunen Stein verwandelt wird, da er die von Irrlichtern ausgeschütteten Goldmünzen gefressen hat.  

Eine weitere Figur aus „Tausendundeiner Nacht“ korrespondiert mit dem Märchen von Goethe: Die „Lilie“, versehen mit dem Namensattribut 'schön'. Die  ‚schöne Lilie’ besitzt wundersame Kräfte, kann sie doch alles Tote "...durch ihre Berührung lebendig machen, wie sie alles Lebendige durch ihre Berührung tötet". Gleichwohl sieht der französische Literaturkritiker Gonthier Louis Fink darin eine Analogie zum "Feenbasar von 'Tausendundeiner Nacht'". Er verweist in diesem Zusammenhang auf die "Histoire du Roi Hormuz". Dort soll das Motiv der 'lebenspendenden Frau' auftauchen, "…die zu einer todbringende[nl Meduse [wird], deren Blick den Betrachtenden in einen wandelnden Schatten verwandelt' und deren Berührung das Leben raubt." So verwandelt sich der Park der Meduse in einen Friedhof. Vom Garten der schönen Lilie wiederum heißt es: "Alle Pflanzen in meinem (…) Garten tragen weder Blüten noch Früchte; aber jedes Reis, das ich breche und auf das Grab eines Lieblings pflanze, grünt sogleich…" 

Weit mehr Analogien, Parallelen, Figuren und Motive des Goetheschen Märchens zu „Tausendundeiner Nacht“ ließen sich ausmachen, ebenso Bezüge anderer Autoren des 18. Jahrhunderts dazu, inwiefern obige Ausführungen lediglich als exemplarisch zu betrachten sind. Leicht lässt sich daran jedoch der Einfluss entfernter kultureller Errungenschaften aus dem Orient und die befruchtenden Auswirkungen schon damals im sogenannten Abendland ablesen.

Gerade heute, wo im Zuge der Angst vor Überfremdung in gewissen Teilen der Bevölkerung, im Zuge des IS-Terrors, Verunsicherung und, damit einhergehend, Fremdenfeindlichkeit aufflammen, mag eine Rückbesinnung auf den Reichtum, den so ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen als fruchtbares Potenzial in sich birgt, erhellend sein. Zumindest im Hinblick auf die literarische Überlieferung ist deutlich geworden, dass, bei allem, was den Orient vom Okzident trennen mag, genügend Gemeinsamkeiten vorhanden sind. Nicht zuletzt sei hier abschließend auf Goethes Verehrung des persischen Dichter Hafis verwiesen, einem weiteren großen Kapitel in diese Richtung.

Wir jedenfalls wünschen eine schöne Weihnachtszeit. Kommen Sie gut ins neue Jahr!

© Hartmut Fanger  www.schreibfertig.com    

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